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JAHRESFEIER
selnden Anblicken der beiden Kirchtürme von Martinville und des entfernten
Kirchturms vonVieuxVicq macht. Die so entstehende Landschaftskonfiguration mit
der Zeit als vierter Dimension beschäftigt Marcels Geist so sehr, daß er noch in der
Kutsche um Bleistift und Papier bittet und seine Impressionen unmittelbar auf-
zeichnet, als wäre die Zeitlandschaft wie von selbst eine syntaktische Sprachland-
schaft geworden. Lange Jahre wird dieser spontan entstandene Text der einzige sein,
den Marcel, der schon in Combray, angeregt durch den schriftstellerischen Schön-
schreiber Bergotte, seine Berufung zum Schriftsteller ahnt, zustande bringt. Fortan
wird Marcel durch Jahre unablässig nach dem philosophischen Thema suchen, an
dem er zum großen Schriftsteller werden könnte, ohne zu bemerken, daß er es
bereits gefunden hat: die Zeit und genauer die Zeitgestalt oder Zeitplastik.
Nicht zuletzt ist die Zeit von Combray die Zeit von Marcels frühester Begeg-
nung mit der Kunst. Die Welt der habitude wäre nicht erinnerbar, wäre sie nicht
markiert und imprägniert von dem, was ihr am meisten entgegengesetzt ist, der auf
Dauer gestellten Ereignishaftigkeit der Kunst. Die Kirche St. Hilaire mit ihren Kir-
chenfenstern und Wandteppichen, die Skulpturen der ländlichen Kirche St. Andre,
die Marcel in den Bauerngesichtern von Combray wiederzuerkennen glaubt, die
Allegorien von Giottos Tugenden und Lastern in der Arenakapelle von Padua, deren
Kenntnis er den von dem Kunstenthusiasten Swann geschenkten Postkarten ver-
dankt, die endlosen Lektüren, bei denen sich imaginäre Ereignishaftigkeit und som-
merlicher Garten vereinigen, geben der Dauer des Gewohnten und Immergleichen
die Aura des Unvergeßlichen.
Ein neues Zeitgehäuse öffnet sich mit der Pariser Welt zwischen Champs
Elysees und Bois de Boulogne. Dort begegnet der nun schon zum Jüngling heran-
wachsende Marcel Gilberte, der Tochter Odettes und Charles’ Swann, und es ent-
spinnt sich daraus eine quälend unbeständige erste, noch kindliche Verliebtheit, die
so wechselhaft ist wie das Wetter, das einmal dem gemeinsamen Spiel günstig ist, ein-
mal ihm entgegensteht.
In der Tagwelt von Combray stand das Ephemere in einer unendlichen Serie
von Korrespondenzen. Dagegen fügen sich die Momentaufnahmen von Gilbertes
plötzlichem Erscheinen und Sich-Entziehen zu einem oszillierenden Bild sich über-
lagernder durchsichtiger Bilder oder einem dynamischen Palimpsest zusammen. Für
Marcel ist dies die erste Erfahrung der prinzipiellen Zeitlichkeit jeder noch so lei-
denschaftlichen Liebesbegegnung, wie sie schon Stendhal in seinem Essay Über die
Liebe reflektiert hatte.
In dem Maß aber, wie Marcels Interesse für Gilberte erkaltet, wendet er sich
der Mutter zu, deren glanzvolle Ausritte im Bois de Boulogne Marcel bewundert.
Wie Tante Leonie ist auch Odette eine dominante Zeitgestalt, eine allegorische Göt-
tin der Zeit. Sie ist, wenn sie in der Akazienallee des Bois de Boulogne hoch zu Pferd
erscheint, em Inbegriff der letzten Mode, ihre gebieterische Inkarnation. Aber der
Bois, dieser „Garten der Frauen“11, ist zugleich im Sinne jener Pariser Stadtmytho-
11 Jardin des femmes; I, 410.
JAHRESFEIER
selnden Anblicken der beiden Kirchtürme von Martinville und des entfernten
Kirchturms vonVieuxVicq macht. Die so entstehende Landschaftskonfiguration mit
der Zeit als vierter Dimension beschäftigt Marcels Geist so sehr, daß er noch in der
Kutsche um Bleistift und Papier bittet und seine Impressionen unmittelbar auf-
zeichnet, als wäre die Zeitlandschaft wie von selbst eine syntaktische Sprachland-
schaft geworden. Lange Jahre wird dieser spontan entstandene Text der einzige sein,
den Marcel, der schon in Combray, angeregt durch den schriftstellerischen Schön-
schreiber Bergotte, seine Berufung zum Schriftsteller ahnt, zustande bringt. Fortan
wird Marcel durch Jahre unablässig nach dem philosophischen Thema suchen, an
dem er zum großen Schriftsteller werden könnte, ohne zu bemerken, daß er es
bereits gefunden hat: die Zeit und genauer die Zeitgestalt oder Zeitplastik.
Nicht zuletzt ist die Zeit von Combray die Zeit von Marcels frühester Begeg-
nung mit der Kunst. Die Welt der habitude wäre nicht erinnerbar, wäre sie nicht
markiert und imprägniert von dem, was ihr am meisten entgegengesetzt ist, der auf
Dauer gestellten Ereignishaftigkeit der Kunst. Die Kirche St. Hilaire mit ihren Kir-
chenfenstern und Wandteppichen, die Skulpturen der ländlichen Kirche St. Andre,
die Marcel in den Bauerngesichtern von Combray wiederzuerkennen glaubt, die
Allegorien von Giottos Tugenden und Lastern in der Arenakapelle von Padua, deren
Kenntnis er den von dem Kunstenthusiasten Swann geschenkten Postkarten ver-
dankt, die endlosen Lektüren, bei denen sich imaginäre Ereignishaftigkeit und som-
merlicher Garten vereinigen, geben der Dauer des Gewohnten und Immergleichen
die Aura des Unvergeßlichen.
Ein neues Zeitgehäuse öffnet sich mit der Pariser Welt zwischen Champs
Elysees und Bois de Boulogne. Dort begegnet der nun schon zum Jüngling heran-
wachsende Marcel Gilberte, der Tochter Odettes und Charles’ Swann, und es ent-
spinnt sich daraus eine quälend unbeständige erste, noch kindliche Verliebtheit, die
so wechselhaft ist wie das Wetter, das einmal dem gemeinsamen Spiel günstig ist, ein-
mal ihm entgegensteht.
In der Tagwelt von Combray stand das Ephemere in einer unendlichen Serie
von Korrespondenzen. Dagegen fügen sich die Momentaufnahmen von Gilbertes
plötzlichem Erscheinen und Sich-Entziehen zu einem oszillierenden Bild sich über-
lagernder durchsichtiger Bilder oder einem dynamischen Palimpsest zusammen. Für
Marcel ist dies die erste Erfahrung der prinzipiellen Zeitlichkeit jeder noch so lei-
denschaftlichen Liebesbegegnung, wie sie schon Stendhal in seinem Essay Über die
Liebe reflektiert hatte.
In dem Maß aber, wie Marcels Interesse für Gilberte erkaltet, wendet er sich
der Mutter zu, deren glanzvolle Ausritte im Bois de Boulogne Marcel bewundert.
Wie Tante Leonie ist auch Odette eine dominante Zeitgestalt, eine allegorische Göt-
tin der Zeit. Sie ist, wenn sie in der Akazienallee des Bois de Boulogne hoch zu Pferd
erscheint, em Inbegriff der letzten Mode, ihre gebieterische Inkarnation. Aber der
Bois, dieser „Garten der Frauen“11, ist zugleich im Sinne jener Pariser Stadtmytho-
11 Jardin des femmes; I, 410.