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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2005 — 2006

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I. Das Geschäftsjahr 2005
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Wissenschaftliche Sitzungen
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Sitzung der Phil.-hist. Klasse am 26. November 2005
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Schmidt, Jochen: Goethes Altersgedicht Unworte. Orphisch
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https://doi.org/10.11588/diglit.67593#0090
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26. November 2005

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Individualitätsprinzip, das von Anfang an der Daimon repräsentiert. Demnach bringt
die im Zentrum des Gedichts stehende Eros-Strophe den Antagonismus von
Begrenztheit und Grenzüberschreitung, der die Konstellation der beiden ersten und
der beiden letzten Strophen bestimmt, zum Ausgleich. Deshalb bildet die Eros-Stan-
ze nicht nur die kompositorische Mitte des Gedichts, sie markiert auch nicht nur die
lebensgeschichtliche Mitte im prozessualen Duktus des Gedichts - sie ist darüber-
hinaus Mitte im Sinne einer vollständigen Vermittlung der Gegensätze von Begren-
zung und Entgrenzung.
Die Ananke- und die Elpis-Stanze zeigen allerdings an, daß der durch das Ver-
mittlungsgeschehen erreichte Zustand keineswegs der endgültige ist. Denn obwohl
die beiden abschließenden Stanzen wesentliche Analogien zur Konstellation der bei-
den Anfangsstrophen über Daimon und Tyche erkennen lassen, führen sie weiter.
Sowohl Ananke wie Elpis sind schärfer ausgeformt als Daimon und Tyche. Das
„Muß“ der Daimon-Strophe („so mußt du sein“) steigert sich in der Ananke-Stro-
phe zu einem „harten Muß“; das „Wandelnde“ der Tyche, die immerhin noch „mit
und um uns wandelt“, wird abgelöst von einer ins Grenzenlose ausschweifenden
Hoffnung — „sie schwärmt durch alle Zonen“. Dominierte am Ende der Ananke -
Strophe das Gefühl von Unfreiheit und Enge, so vermittelt Elpis das Gefühl gren-
zenloser Freiheit und Weite. Ihr entgrenzendes Wesen manifestiert sich in der Auf-
hebung der alles Dasein determinierenden Kategorien von Raum und Zeit. Zuerst
hebt Elpis die räumlichen Grenzen auf: „sie schwärmt durch alle Zonen“, dann alle
zeitlichen Grenzen des Daseins, ja die Zeit überhaupt: „Em Flügelschlag — und hin-
ter uns Äonen!“ Zugleich wird aber gerade in diesem Hinausgehen über die Grund-
bedingungen des Daseins auch das Illusionäre der Hoffnung spürbar. Im lebensge-
schichtlichen Duktus der ‘Urworte. Orphisch’ bezeichnet Elpis ein Endstadium.
Nachdem der Mensch mit fortschreitendem Alter die Ananke immer bedrückender
erfahren mußte, bilden sich in ihm ebenfalls immer stärker psychische Gegenkräfte
aus, die ihm eine zwar objektiv illusionäre, aber subjektiv dennoch wirksame Befrei-
ung von allem Zwang und aller Begrenztheit des Daseins verheißen. Indem Goethe
das Illusionäre und die alterspsychologische Bedingtheit der Elpis erkennen läßt,
taucht er das Ende des Gedichts in das Licht einer suspensiven Ironie.
Im Rückblick auf die zyklische Komposition, die dialektische Struktur und
den prozessualen lebensgeschichtlichen Duktus erweisen sich die ‘Urworte.
Orphisch’ als ein Gebilde von eindrucksvoller Dichte und Geschlossenheit. Die
Alterserfahrung bildet den perspektivischen Punkt, von dem aus der Gesamtprozeß
wahrgenommen und als prototypische Lebensgeschichte verstanden werden kann.
Bei allem lebensgeschichtlich bedingten Erfahrungswandel bleibt allerdings die dia-
lektische Konstellation von Begrenztheit und Entgrenzung als Grundstruktur des
Daseins erhalten. Da Goethe die wesentliche Tendenz der Romantik als Entgren-
zungstrieb definierte, handelt es sich zugleich um eine Anthropologisierung dieses
geschichtlich-kulturellen Phänomens: Obwohl er die Romantik bis ins hohe Alter
entschieden kritisierte, sah er die romantische Grundtendenz zur Entgrenzung, die
das klassische Kunstprinzip der gestaltbewahrenden Begrenzung in Frage stellte,
letztlich doch als existentiell gegeben an. Er begreift den Entgrenzungstrieb als
 
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