Das WIN-Kolleg | 273
das Thema auch der weiteren Beiträge. Zunächst zeichnete Fabrice Larat in seinem
Beitrag „Vergegenwärtigung von Geschichte und Interpretation der Vergangenheit:
zur Legitimation der europäischen Integration“ nach, wie aus der institutionalisier-
ten europäischen Zusammenarbeit ein spezifisches, EU-ropäisches Selbstverständnis
entsteht. Dazu analysierte er die Präambeln der verschiedenen Vertragstexte seit der
Erklärung Robert Schumans vom 9. Mai 1950. Wie Seidendorf, jedoch aus einer
genuin EU-ropäischen Perspektive heraus, machte er deutlich: Es gibt nicht nur das
angeblich „technokratische“ und ohne kollektives Fundament entstandene EU-
Recht, sondern dieser Kanon (der acquis communautaire), der von jedem Neumitglied
zu übernehmen ist, wird von einer spezifischen Sicht auf die eigene, europäische
Geschichte begleitet. Diese Sichtweise manifestiert sich in den Präambeln der Ver-
träge, ihr wichtigstes Argument ist die Entstehung der EU als Antwort auf die jahr-
hundertelange Feindschaft zwischen den Nationen des Kontinents, die im 20. Jahr-
hundert in den beiden Weltkriegen kulminierte. Seit den neunziger Jahren erweitert
sich diese Sichtweise zunehmend um eine Abgrenzung nicht nur gegen die faschi-
stische Vergangenheit des Kontinents, sondern auch gegen die kommunistische
Unterdrückung, unter der besonders die Neumitglieder zu leiden hatten. Das so ent-
standene Selbstverständnis bezeichnet Larat als acquis communautaire historique.
Eine Verständigung auf einen solchen Identitätsdiskurs wird jedoch nicht ohne
die Bürger Europas stattfinden können, wie Völker Balli in seinem programmatischen
Beitrag „Begründungen eines europäischen Gemeinwesens: Europäische Bürger,
historisches Europa, gerechtfertigtes europäisches Handeln“ eindringlich betonte.
Neben die funktionalistische und historische Begründung für die Existenz einer
europäischen politischen Gemeinschaft tritt die normative Begründung, die letzt-
endlich aus einem sich immer erneuernden politischen Willensakt entspringen muss.
Erst eine Zusammenführung dieser drei Komponenten, so Balli, verleihe dem
Gemeinwesen die nötige Breite und Tiefe, um eine Verständigung auf die Reich-
weiten europäischer Politik zu ermöglichen.
Diesen Ansatz führt schließlich Rolf-Hagen Schulz-Forberg kritisch weiter,
indem er den Versuchen einer Homogenisierung Europas aufgrund vorgeblicher
oder tatsächlicher historischer Gemeinsamkeiten und kultureller Grundlagen das —
ebenso historisch verankerte - utopische Potential Europas entgegensetzt. Entspre-
chend geht er in seinem Beitrag „Europas post-nationale Legitimation. Überlegun-
gen gegen eine Essentialisierung von Kultur und Identität“ mit den vorherrschen-
den Versuchen intellektueller Verständigung durchaus kritisch ins Gericht.1 Stattdes-
sen fordert er dazu auf, „Europa“ neu zu denken und so zu einer Verständigung über
Europa jenseits des Nationalen zu kommen, denn es sind eben zutiefst europäische
Da Schulz-Forberg seine Teilnahme an der Tagung leider kurzfristig absagen musste, lag sein Beitrag
lediglich schriftlich vor. Er sei hier gleichwohl abschließend erwähnt, da er auch in den die Tagung
dokumentierenden Sammelband Aufnahme gefunden hat: Matthias Schöning/Stefan Seidendorf
(Hgg.): Reichweiten der Verständigung. Intellektuellendiskurse zwischen Nation und Europa, Heidelberg:
Winter 2006 (im Erscheinen).
das Thema auch der weiteren Beiträge. Zunächst zeichnete Fabrice Larat in seinem
Beitrag „Vergegenwärtigung von Geschichte und Interpretation der Vergangenheit:
zur Legitimation der europäischen Integration“ nach, wie aus der institutionalisier-
ten europäischen Zusammenarbeit ein spezifisches, EU-ropäisches Selbstverständnis
entsteht. Dazu analysierte er die Präambeln der verschiedenen Vertragstexte seit der
Erklärung Robert Schumans vom 9. Mai 1950. Wie Seidendorf, jedoch aus einer
genuin EU-ropäischen Perspektive heraus, machte er deutlich: Es gibt nicht nur das
angeblich „technokratische“ und ohne kollektives Fundament entstandene EU-
Recht, sondern dieser Kanon (der acquis communautaire), der von jedem Neumitglied
zu übernehmen ist, wird von einer spezifischen Sicht auf die eigene, europäische
Geschichte begleitet. Diese Sichtweise manifestiert sich in den Präambeln der Ver-
träge, ihr wichtigstes Argument ist die Entstehung der EU als Antwort auf die jahr-
hundertelange Feindschaft zwischen den Nationen des Kontinents, die im 20. Jahr-
hundert in den beiden Weltkriegen kulminierte. Seit den neunziger Jahren erweitert
sich diese Sichtweise zunehmend um eine Abgrenzung nicht nur gegen die faschi-
stische Vergangenheit des Kontinents, sondern auch gegen die kommunistische
Unterdrückung, unter der besonders die Neumitglieder zu leiden hatten. Das so ent-
standene Selbstverständnis bezeichnet Larat als acquis communautaire historique.
Eine Verständigung auf einen solchen Identitätsdiskurs wird jedoch nicht ohne
die Bürger Europas stattfinden können, wie Völker Balli in seinem programmatischen
Beitrag „Begründungen eines europäischen Gemeinwesens: Europäische Bürger,
historisches Europa, gerechtfertigtes europäisches Handeln“ eindringlich betonte.
Neben die funktionalistische und historische Begründung für die Existenz einer
europäischen politischen Gemeinschaft tritt die normative Begründung, die letzt-
endlich aus einem sich immer erneuernden politischen Willensakt entspringen muss.
Erst eine Zusammenführung dieser drei Komponenten, so Balli, verleihe dem
Gemeinwesen die nötige Breite und Tiefe, um eine Verständigung auf die Reich-
weiten europäischer Politik zu ermöglichen.
Diesen Ansatz führt schließlich Rolf-Hagen Schulz-Forberg kritisch weiter,
indem er den Versuchen einer Homogenisierung Europas aufgrund vorgeblicher
oder tatsächlicher historischer Gemeinsamkeiten und kultureller Grundlagen das —
ebenso historisch verankerte - utopische Potential Europas entgegensetzt. Entspre-
chend geht er in seinem Beitrag „Europas post-nationale Legitimation. Überlegun-
gen gegen eine Essentialisierung von Kultur und Identität“ mit den vorherrschen-
den Versuchen intellektueller Verständigung durchaus kritisch ins Gericht.1 Stattdes-
sen fordert er dazu auf, „Europa“ neu zu denken und so zu einer Verständigung über
Europa jenseits des Nationalen zu kommen, denn es sind eben zutiefst europäische
Da Schulz-Forberg seine Teilnahme an der Tagung leider kurzfristig absagen musste, lag sein Beitrag
lediglich schriftlich vor. Er sei hier gleichwohl abschließend erwähnt, da er auch in den die Tagung
dokumentierenden Sammelband Aufnahme gefunden hat: Matthias Schöning/Stefan Seidendorf
(Hgg.): Reichweiten der Verständigung. Intellektuellendiskurse zwischen Nation und Europa, Heidelberg:
Winter 2006 (im Erscheinen).