Walter Hang
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Erkenntnischancen wahrnimmt, dabei allerdings auch immer ihre spezifische Pro-
blematik reflektiert. Aus dieser Position heraus hat Haug die Erforschung der mittel-
alterlichen deutschen Literatur durch eine Fülle von Anstößen bereichert. Hier kön-
nen nur einige Schwerpunkte hervorgehoben werden.
Mit der von ihm herausgegebenen Reihe „Bibliothek des Mittelalters“ wollte
Haug ein neues Bild von den Höhepunkten der mittelalterlichen deutschen Litera-
tur über die Fachwelt hinaus vermitteln bei ungemindertem wissenschaftlichem
Anspruch an Edition und Kommentierung und gutem plastischem Deutsch der
Übersetzungen. Dass er die Höhepunkte nicht nur bei den anerkannten Klassikern
gesehen hat, zeigt die Aufnahme auch einiger Texte, die traditionell eher als peripher
betrachtet wurden. Er selbst hat im ersten Band der Reihe mit einer Auswahl aus der
alt- und frühmittelhochdeutschen Literatur (zusammen mit Konrad Benedikt Voll-
manns Bearbeitung lateinischer Dichtungen der Zeit) gezeigt, was eine sensibel-
kraftvolle Übersetzung und ein souveräner Kommentar zu leisten vermögen. Philo-
logische Einzelprobleme, für die in diesem Band kein Platz war, hat er in einer
begleitenden „Nussknackersuite“ diskutiert.
Immer wieder hat sich Haug um die Heldensage und um das Heldenepos, vor
allem „Waltharius“ und „Nibelungenlied“, bemüht. Farbiges Vergleichsmaterial aus
vielen Literaturen und sensible Textbeobachtungen zeichnen diese Arbeiten aus. Das
Hauptziel aber war immer, die literarästhetischen und literaturanthropologischen
Prinzipien von Heldendichtung zu begreifen. Gegen das lange Zeit dominante Kon-
zept Andreas Heuslers, das eine Enthistorisierung geschichtlicher Erinnerung und
eine literaturimmanente Weiterentwicklung annahm, setzte er die These, dass in
heroischer Dichtung geschichtliche Erfahrung mit Hilfe bereits vorhandener litera-
rischer Schemata verarbeitet und tradiert wird. Die Entstehung des schriftlich fixier-
ten Buchepos sah er nicht mehr nur als Aufschwellung eines knapp erzählenden Lie-
des, sondern als Schritt in die Auseinandersetzung mit dem heroisch-historischen
Bewusstsein. Solche Auseinandersetzung — Haug spricht von „Reflexion“ — sah er
beim „Nibelungenlied“ in einem frühen Aufsatz in einer bewussten Kontrastierung
von Heroischem und Höfischem, in späteren Arbeiten in einem Erzählen, das durch
Brüche der Erzähllogik, Zufälle und Erzählüberschüsse das Geschehen auf den vor-
gegebenen Untergang zutreiben lässt. Dass damit dem Autor des Heldenepos wieder
eine bedeutende Rolle zuerkannt wird und dass die Hauptfiguren Kriemhild und
Hagen geradezu als Individuen profiliert werden, Individuen, die heroischen Verhal-
tensmustern nicht einfach unterliegen, sondern mit ihnen operieren, steht gegen
verbreitete Tendenzen der Forschung, bleibt aber zumindest eine bedeutende Provo-
kation, an der man sich wird abarbeiten müssen.
Eine fruchtbare Provokation war auch der „Entwurf zu einer Theorie der mit-
telalterlichen Kurzerzählung“ (1993). Er stellte sich quer zur damals aktuellen Gat-
tungsdiskussion um das „Märe“, schob alle moralisierenden Pro- und Epimythien
zunächst einmal beiseite und versuchte mit der These vom Erzählen im gattungs-
freien Raum und von der konstitutiven Sinnlosigkeit, die dem Zufall, der Gewalt,
der Lust und dem Intellekt Raum zur Entfaltung biete, den Blick auf anthropologi-
sche Grundfragen zu lenken. Später hat Haug diesen Ansatz durch Einbeziehung des
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Erkenntnischancen wahrnimmt, dabei allerdings auch immer ihre spezifische Pro-
blematik reflektiert. Aus dieser Position heraus hat Haug die Erforschung der mittel-
alterlichen deutschen Literatur durch eine Fülle von Anstößen bereichert. Hier kön-
nen nur einige Schwerpunkte hervorgehoben werden.
Mit der von ihm herausgegebenen Reihe „Bibliothek des Mittelalters“ wollte
Haug ein neues Bild von den Höhepunkten der mittelalterlichen deutschen Litera-
tur über die Fachwelt hinaus vermitteln bei ungemindertem wissenschaftlichem
Anspruch an Edition und Kommentierung und gutem plastischem Deutsch der
Übersetzungen. Dass er die Höhepunkte nicht nur bei den anerkannten Klassikern
gesehen hat, zeigt die Aufnahme auch einiger Texte, die traditionell eher als peripher
betrachtet wurden. Er selbst hat im ersten Band der Reihe mit einer Auswahl aus der
alt- und frühmittelhochdeutschen Literatur (zusammen mit Konrad Benedikt Voll-
manns Bearbeitung lateinischer Dichtungen der Zeit) gezeigt, was eine sensibel-
kraftvolle Übersetzung und ein souveräner Kommentar zu leisten vermögen. Philo-
logische Einzelprobleme, für die in diesem Band kein Platz war, hat er in einer
begleitenden „Nussknackersuite“ diskutiert.
Immer wieder hat sich Haug um die Heldensage und um das Heldenepos, vor
allem „Waltharius“ und „Nibelungenlied“, bemüht. Farbiges Vergleichsmaterial aus
vielen Literaturen und sensible Textbeobachtungen zeichnen diese Arbeiten aus. Das
Hauptziel aber war immer, die literarästhetischen und literaturanthropologischen
Prinzipien von Heldendichtung zu begreifen. Gegen das lange Zeit dominante Kon-
zept Andreas Heuslers, das eine Enthistorisierung geschichtlicher Erinnerung und
eine literaturimmanente Weiterentwicklung annahm, setzte er die These, dass in
heroischer Dichtung geschichtliche Erfahrung mit Hilfe bereits vorhandener litera-
rischer Schemata verarbeitet und tradiert wird. Die Entstehung des schriftlich fixier-
ten Buchepos sah er nicht mehr nur als Aufschwellung eines knapp erzählenden Lie-
des, sondern als Schritt in die Auseinandersetzung mit dem heroisch-historischen
Bewusstsein. Solche Auseinandersetzung — Haug spricht von „Reflexion“ — sah er
beim „Nibelungenlied“ in einem frühen Aufsatz in einer bewussten Kontrastierung
von Heroischem und Höfischem, in späteren Arbeiten in einem Erzählen, das durch
Brüche der Erzähllogik, Zufälle und Erzählüberschüsse das Geschehen auf den vor-
gegebenen Untergang zutreiben lässt. Dass damit dem Autor des Heldenepos wieder
eine bedeutende Rolle zuerkannt wird und dass die Hauptfiguren Kriemhild und
Hagen geradezu als Individuen profiliert werden, Individuen, die heroischen Verhal-
tensmustern nicht einfach unterliegen, sondern mit ihnen operieren, steht gegen
verbreitete Tendenzen der Forschung, bleibt aber zumindest eine bedeutende Provo-
kation, an der man sich wird abarbeiten müssen.
Eine fruchtbare Provokation war auch der „Entwurf zu einer Theorie der mit-
telalterlichen Kurzerzählung“ (1993). Er stellte sich quer zur damals aktuellen Gat-
tungsdiskussion um das „Märe“, schob alle moralisierenden Pro- und Epimythien
zunächst einmal beiseite und versuchte mit der These vom Erzählen im gattungs-
freien Raum und von der konstitutiven Sinnlosigkeit, die dem Zufall, der Gewalt,
der Lust und dem Intellekt Raum zur Entfaltung biete, den Blick auf anthropologi-
sche Grundfragen zu lenken. Später hat Haug diesen Ansatz durch Einbeziehung des