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Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]
Jahrbuch ... / Heidelberger Akademie der Wissenschaften: Jahrbuch 2008 — 2009

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III. Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses
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B. Das WIN-Kolleg
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2. Forschungsschwerpunkt "Kulturelle Grundlagen der Europäischen Einigung"
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https://doi.org/10.11588/diglit.67591#0264
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Das WIN-Kolleg

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Religion und Politik im frühneuzeitlichen Europa und - im Vergleich — im islami-
schen Kulturzusammenhang im Zentrum des Interesses. Die Situation der Wissen-
schaft in der europäischen Frühen Neuzeit zeigt dabei ein überaus charakteristisches
Doppelgesicht: Einerseits werden Wissenschaft und Wissenschaftler verstärkt durch
den Staat in Dienst genommen und geradezu funktionalisiert, um die ideologische
und organisatorische Einheitlichkeit des frühneuzeitlichen Gemeinwesens durchzu-
setzen und aufrechtzuerhalten. Dieses praktische Interesse an nützlicher Bildung auf
hohem Niveau zeigt sich namentlich in den Bemühungen von Herrschern, Fürsten
und Städten, „ihre“ Universitäten, das Lehrangebot und den Studienbetrieb zu refor-
mieren und zu modernisieren, und zwar weniger im Sinn gestiegener ‘humanisti-
scher’ Ansprüche an eine etwa als Selbstzweckhaft verstandene Universitätswissen-
schaft, sondern vielmehr in dem Bestreben, die Universitäten sowohl in Gestalt ihrer
‘höheren’ Fakultäten als gerade auch der Artistenfakultäten zu effizient arbeitenden
Ausbildungsstätten für den Beamtennachwuchs umzuformen. Andererseits — und
beide Aspekte sind nicht ohne Weiteres miteinander in Übereinstimmung zu brin-
gen — artikulieren gerade Träger gelehrter Bildung ein gesteigertes Selbstbewusstsein,
das bis zur naturphilosophisch begründeten Ausgrenzung der Wissenschaftler aus der
übrigen menschlichen Gesellschaft reichen kann, insofern sich im Intellektuellen in
exemplarischer Weise die besten Möglichkeiten des Menschen, nämlich eben sein
intellectus, verwirklicht finden. Er und nur er ist Mensch im Vollsinn des Wortes.
Dieses veränderte soziale (Selbst )Verständnis der Intellektuellen beruht wesentlich
darauf, dass sich das Menschsein nicht (mehr) primär über den Gottesbezug jedes
einzelnen Menschen als „Bild und Gleichnis“ Gottes und als des individuellen
Adressaten des göttlichen Heilshandelns am Menschen bestimmt, sondern aufgrund
der hierarchisch abgestuften Verwirklichung der der menschlichen Gattung im
innerweltlichen Naturzusammenhang zukommenden Möglichkeiten; es stellt inso-
fern die geradezu paradoxe Kehrseite der charakteristischen Anthropozentrik der
Frühen Neuzeit dar: Während sich auf der einen Seite der Mensch als Gattungswe-
sen in den „Mittelpunkt der Welt“ (Pico della Mirandola) stellt, das seinen Platz zwi-
schen Tieren und „Intelligenzen“ allererst selbst zu bestimmen hat, treten gerade
dadurch auf der anderen Seite individuelle Begabungsdifferenzen als anthropologi-
sche Bestimmungsgrößen in den Vordergrund, wobei eben die Gelehrten, insbeson-
dere die Träger naturphilosophischen Wissens, sich selbst nachdrücklich als Expo-
nenten der höchsten Verwirklichungsform des Menschlichen präsentieren. Dieses
Verständnis hat Konsequenzen nicht nur für die Konzeption von Gesellschaft, Staat
und Politik - die Staatlichkeit des Menschen wird durchweg von einem praktischen
Projekt zu einem Naturphänomen, ihre Ausgestaltung sieht sich auf naturphiloso-
phisches Expertenwissen verwiesen -, sondern insbesondere auch für den Status der
Religion und ihr Verhältnis zur Wissenschaft im politischen Raum: Die Glaubens-
lehre des Christentums und seine kirchliche Organisation werden innerhalb des
naturalen Zusammenhanges zu einer Funktion des Politischen, namentlich zu einem
sozial und politisch dienlichen Disziplinierungsmittel den Menschen gegenüber,
deren intellektuelle Begabung und Vernunftgebrauch nicht zu einer Naturerkennt-
nis befähigen, die hinreicht, um ein sozial adäquates Verhalten sicherzustellen. Neben
 
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