Das WIN-Kolleg
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angebote, die in dem Werk vereint wurden, auf einzelne Leserkreise gewirkt haben
könnten, bildet den Gegenstand weiterer Untersuchungen.
Abgerundet wurden die Forschungen der Projektgruppe „Welterschließung“
auch im Jahr 2008 durch diachrone Studien zum Wissenschaftsverständnis im
islamischen Kulturraum, wobei die Aufmerksamkeit besonders der Religionsgelehr-
samkeit und der Medizin galt. Den Ausgangspunkt für die Erforschung der Bedeu-
tung der medizinischen Praxis im Verhältnis zur Rezeption theoretischer Quellen
wissenschaftlichen Wissens bildete dabei nach wie vor der „Kanon“ des Avicenna:
Eine Analyse des zweiten Buchs des „Kanon“ zu einfachen Heilmitteln (also zu
einem Feld der ‘praktischen’ Medizin) konnte zeigen, dass Avicenna zwar wiederholt
im Zusammenhang unterschiedlicher Lehrmeinungen auf Praxiserlebnisse verweist
— sei es bereits bei den antiken Ärzten, sei es aus dem eigenen Umfeld — und anhand
solcher Rekurse auf die Praxis auch Zweifelsfälle entscheidet. Damit stellt sich nach-
drücklich die Frage nach Avicennas eigener medizinischer Praxis und ihrer Bedeu-
tung als Erkenntnisgrundlage für den medizinischen Wissenschaftler, den auf der
Basis der griechischen Gelehrsamkeit argumentierenden gelehrten Arzt. Eine inzwi-
schen durchgeführte Detailuntersuchung des umfangreichen „Kanon“ ergab jedoch,
dass nur zwei Textstellen den Arzt (nicht Gelehrten) Avicenna in die Nähe einer
eigenen chirurgischen Tätigkeit stellen: Bei einer Augenoperation liest man, er selbst
habe sie durchgeführt. Im Zusammenhang mit der Therapie von Nierensteinen rät
Avicenna von Operationen ab, um sich anschließend invasiven Heilmethoden jeder
Art gegenüber grundsätzlich skeptisch zu äußern. Dieser Befund macht eindrucks-
voll deutlich, dass für Avicenna eine eventuelle eigene (chirurgische und pharma-
zeutische) Praxis als Erkenntnisquelle keine ernstzunehmende Rolle spielt, sondern
vielmehr überwiegend oder ausschließlich in ihrer literalisierten Gestalt in den Blick
kommt, d. h. insofern sie bereits in theoretische Erörterungen Eingang gefunden hat.
Während dieser Befund, was den Wissenschaftsstatus der Medizin angeht, sig-
nifikante Übereinstimmungen zwischen dem islamischen und dem lateinisch-christ-
lichen Kulturkreis bestätigt, ergibt sich für den Bereich der ,Religionsgelehrsamkeit’
— von ‘Theologie’ ist deshalb besser nicht die Rede — ein deutlich abweichendes Bild.
Die islamische Kultur hat — mit erheblichen Konsequenzen für die Rolle der
Gelehrsamkeit, insbesondere der Religionsgelehrsamkeit, im politischen Kontext
und für die Träger politischer Macht - weder die spezifische Differenz zwischen Wis-
senschaft, Religion und Politik gekannt, wie sie sich im (west )europäischen Denken
über Jahrhunderte hinweg auf verschlungenen Wegen ausgebildet hat, noch den für
das europäische Denken kennzeichnenden spannungsvollen Bezug von Theorie und
Praxis.
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angebote, die in dem Werk vereint wurden, auf einzelne Leserkreise gewirkt haben
könnten, bildet den Gegenstand weiterer Untersuchungen.
Abgerundet wurden die Forschungen der Projektgruppe „Welterschließung“
auch im Jahr 2008 durch diachrone Studien zum Wissenschaftsverständnis im
islamischen Kulturraum, wobei die Aufmerksamkeit besonders der Religionsgelehr-
samkeit und der Medizin galt. Den Ausgangspunkt für die Erforschung der Bedeu-
tung der medizinischen Praxis im Verhältnis zur Rezeption theoretischer Quellen
wissenschaftlichen Wissens bildete dabei nach wie vor der „Kanon“ des Avicenna:
Eine Analyse des zweiten Buchs des „Kanon“ zu einfachen Heilmitteln (also zu
einem Feld der ‘praktischen’ Medizin) konnte zeigen, dass Avicenna zwar wiederholt
im Zusammenhang unterschiedlicher Lehrmeinungen auf Praxiserlebnisse verweist
— sei es bereits bei den antiken Ärzten, sei es aus dem eigenen Umfeld — und anhand
solcher Rekurse auf die Praxis auch Zweifelsfälle entscheidet. Damit stellt sich nach-
drücklich die Frage nach Avicennas eigener medizinischer Praxis und ihrer Bedeu-
tung als Erkenntnisgrundlage für den medizinischen Wissenschaftler, den auf der
Basis der griechischen Gelehrsamkeit argumentierenden gelehrten Arzt. Eine inzwi-
schen durchgeführte Detailuntersuchung des umfangreichen „Kanon“ ergab jedoch,
dass nur zwei Textstellen den Arzt (nicht Gelehrten) Avicenna in die Nähe einer
eigenen chirurgischen Tätigkeit stellen: Bei einer Augenoperation liest man, er selbst
habe sie durchgeführt. Im Zusammenhang mit der Therapie von Nierensteinen rät
Avicenna von Operationen ab, um sich anschließend invasiven Heilmethoden jeder
Art gegenüber grundsätzlich skeptisch zu äußern. Dieser Befund macht eindrucks-
voll deutlich, dass für Avicenna eine eventuelle eigene (chirurgische und pharma-
zeutische) Praxis als Erkenntnisquelle keine ernstzunehmende Rolle spielt, sondern
vielmehr überwiegend oder ausschließlich in ihrer literalisierten Gestalt in den Blick
kommt, d. h. insofern sie bereits in theoretische Erörterungen Eingang gefunden hat.
Während dieser Befund, was den Wissenschaftsstatus der Medizin angeht, sig-
nifikante Übereinstimmungen zwischen dem islamischen und dem lateinisch-christ-
lichen Kulturkreis bestätigt, ergibt sich für den Bereich der ,Religionsgelehrsamkeit’
— von ‘Theologie’ ist deshalb besser nicht die Rede — ein deutlich abweichendes Bild.
Die islamische Kultur hat — mit erheblichen Konsequenzen für die Rolle der
Gelehrsamkeit, insbesondere der Religionsgelehrsamkeit, im politischen Kontext
und für die Träger politischer Macht - weder die spezifische Differenz zwischen Wis-
senschaft, Religion und Politik gekannt, wie sie sich im (west )europäischen Denken
über Jahrhunderte hinweg auf verschlungenen Wegen ausgebildet hat, noch den für
das europäische Denken kennzeichnenden spannungsvollen Bezug von Theorie und
Praxis.