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Sellner, Harald [VerfasserIn]; Eberhard Karls Universität Tübingen [Grad-verleihende Institution] [Editor]
Klöster zwischen Krise und correctio: monastische "Reformen" im Hochmittelalterlichen Flandern — Klöster als Innovationslabore, Band 3: Tübingen, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48960#0067
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2. Analyse des Forschungsstands | 63

der Kritik am »traditionellen Mönchtum« erwuchs, als vielmehr auf der Tatsache
beruhte, dass sich bei vielen Menschen die Vorstellungen davon, wie ein gottgefälli-
ges Leben zu führen sei, tiefgreifend gewandelt hatten.258 Dies verschärfte sich vor
allem in der Zeit der Kirchenreform, die nicht nur die Forderung nach einer Rück-
besinnung auf ursprüngliche Ideale formulierte, sondern auch bei den Gläubigen
für große Unsicherheit und Vertrauensverlust in die Kirche als heilsvermittelnde In-
stanz sorgte.259 Bereits Herbert Grundmann bemerkt hierzu: »Aus solchen Fragen
und Zweifeln erwuchs eine religiöse Gesinnung, die das Wesen des Christentums
nicht mehr in der Kirche als Heilsordnung und in der Kirchenlehre als Dogma
und Tradition erfüllt und verwirklicht sah, sondern nach einer Verwirklichung des
Christentums als einer religiösen Lebensform suchte, die für jeden einzelnen echten
Christen unmittelbar verbindlich und für sein Seelenheil wesentlicher sei als seine
Stellung im hierarchischen Ordo der Kirche oder sein Glaube an die Lehren der
Kirchenväter und Theologen.«260 Die »neuen Eremiten« suchten somit ihr Heil auf
ganz anderen Wegen und wurden zum Inbegriff eines »neuen Mönchtums«.261
Zunächst waren sie von der Vorstellung einer »Rückkehr zu den Wurzeln« ge-
leitet. Sie orientierten sich nicht mehr an den überkommenen Gewohnheiten der
Klöster, sondern am ursprünglichen Sinn der Regula Benedicti, dem Vorbild der
Wüstenväter, oder aber direkt am Evangelium und der Apostelgeschichte. Vor allem
die vita apostolica, das Leben nach dem Vorbild der Urkirche, diente vielen eremi-
tischen Gemeinschaften als Orientierung. Von zentraler Bedeutung war hierbei das
Prinzip einer radikalen Gleichheit, die ihren Ausdruck nicht nur in der Güterge-
meinschaft fand, sondern auch das Zusammenleben von Männern und Frauen, von
Klerikern und Laien und Menschen unterschiedlichen sozialen Standes ermöglich-
te.262 Diese radikale Gleichheit sollte die Religiösen den Engeln gleich machen und
zugleich verdeutlichen, dass jeder das Heil finden kann. Eine Unterscheidung dieser
eremitischen Gemeinschaften in Kanoniker oder Mönche lässt sich daher in den
Anfangsjahren nicht vornehmen.

258 A. Vauchez, La spiritualite, S. 73-79.
259 G. Melville, In privatis locis; H. Leyser, Hermits and the New Monasticism; D. Baker, The Whole World
a Hermitage.
260 H. Grundmann, Religiöse Bewegungen, S. 14.
261 Die Unterscheidung zwischen »neu« und »alt« geht vor allem auf die italienische Forschung zurück.
P. Zerbi, >Vecchio< et >Nuovo< monachesimo; kritisch dazu G. G. Merlo, Tra >vecchio< e >nuovo< mo-
nachesimo.
262 G. G. Merlo, Le riforme monastiche; I. Da Milano, Vita evangelica e vita apostolica; E. W. McDonnel,
The »vita apostolica«; zu den Wanderpredigern A. Traver, The Identification of the Vita Apostolica; der
oft fließende Übergang zur Häresie wird thematisiert von S. Trawkowski, Entre l’orthodoxie et l’heresie;
zur vita apostolica in der Urkirche K. S. Frank, Vita apostolica als Lebensform; Ders., Vita apostolica;
J. Schlageter, Artikel »Vita apostolica«.
 
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