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Sellner, Harald [VerfasserIn]; Eberhard Karls Universität Tübingen [Grad-verleihende Institution] [Hrsg.]
Klöster zwischen Krise und correctio: monastische "Reformen" im Hochmittelalterlichen Flandern — Klöster als Innovationslabore, Band 3: Tübingen, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.48960#0357
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2. Die restauratio der Abtei von Saint-Martin (1092-1105) | 353

Brauch der alten Väter war, verzichten sollte. Stattdessen sollte er sich mit den An-
ordnungen und Regeln Clunys zufriedengeben, da diese Abtei zu jener Zeit in ganz
Frankreich wegen ihres guten Rufs, ihrer Disziplin, ihrer Nächstenliebe und ihres
Abtes Hugo hervorragte.1419 Odo habe den Forderungen entsprochen und machte
Heinrich zum Zellerar, den einstigen Vogt Rudolf zum Prior und gab ihm Walter als
Gehilfen zur Seite. Nur diesen drei Mönchen sei es, ohne darum zu bitten, erlaubt
gewesen, das Kloster zu verlassen.1420
Dieses Kapitel nimmt im Liber de restauratione eine Schlüsselposition ein, da
hier eine wichtige Wende in der Entwicklung der jungen Gemeinschaft markiert
wird. Odos Leitung, die mehr idealistisch als realistisch war, wurde von den Mit-
brüdern nicht nur in Frage gestellt, sondern auch in wichtigen Punkten modifiziert.
Das gemeinschaftliche Leben wurde einer umfassenden correctio unterzogen. Was
Hermann auf recht harmlose Weise schildert, kommt einem heftigen inneren Kon-
flikt in Form eines Aufbegehrens gegen den unfähigen Abt gleich, da die Brüder
diesem einen ganzen Katalog von Bedingungen stellten, die er zu erfüllen hatte,
wenn, so impliziert der Text, er weiterhin der Gemeinschaft vorstehen wollte. Die
Forderungen selbst machen deutlich, dass die Brüder Odos Regiment nicht nur als
zu realitätsfremd, sondern auch als zu patriarchalisch betrachteten. So forderten
sie sowohl mehr Mitspracherecht als auch eine zweigeteilte Leitung. Während der
Charismatiker Odo sich dem intellektuellen und spirituellen Leben widmen durf-
te, sollte die Wirtschaft des Klosters Fachleuten überlassen werden. Odos Proben
sowie sein Verzicht auf feste Einnahmen standen sinnbildlich für Cassians monasti-
sches Lebensmodell, das, wie Hermann deutlich macht, zwar besonders fromm und
streng, aber eben auch viel zu realitätsfern war: Ohne feste Einkünfte konnte die
Gemeinschaft nicht existieren; die erniedrigenden Proben waren vor allem für die
Verwandten der Mönche nicht tragbar. Die Gewohnheiten von Anchin haben sich
dagegen als erprobt und bewährt erwiesen und waren daher ein guter Kompromiss.

1419 Hermann, Liber, c. 69, S. 120: »Eodem anno victualium penuria et famis atrocitas totam provinci-
am vehementer afflixit, et abbas Omnibus pauperibus ad se confugientibus quicquid habere poterat
misericorditer tribuere cepit, ita ut nec in horreo nec in cellario aliquid remanserit. Tuncque demum
necessitate et anxietate compulsus, fratribus per totum annum claustro reclusis iugique silentio domitis
et que foris agebantur nescientibus rem sicut erat in capitulo aperuit, magnam scilicet multitudinem
virorum ac mulierum se suscepisse et unde vel una die viverent se non habere. Obstupefacti omnes,
ammirati sunt tantam rem eum sine alicuius consilio fecisse, rogaveruntque eum ut exteriorum curam
alicui viro prudenti committeret, ipse vero doctrine et saluti animarum insisteret nec deinceps aliquem
absque fratrum consilio susciperet, et quos suscipiebat non more antiquorum gravia et importabilia
onera imponendo probaret, sed institutis et regula cluniacensis cenobii contentus esset, quod solum et
fama et religione necnon et caritate universis Gallie monasteriis eo tempore preminebat et a venerabili
abbate Hugone regebatur.«
1420 Hermann, Liber, c. 69, S. 121.
 
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