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Sellner, Harald [VerfasserIn]; Eberhard Karls Universität Tübingen [Grad-verleihende Institution] [Hrsg.]
Klöster zwischen Krise und correctio: monastische "Reformen" im Hochmittelalterlichen Flandern — Klöster als Innovationslabore, Band 3: Tübingen, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48960#0462
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458 | IV. Die Abtei von Anchin

geographische Lage, sondern auch durch den göttlichen Heilsplan, der sich in der
Tradition dieses Ortes spiegelt, besonders geeignet war.1826
Ferner kommt dem Ideal der simplicitas ein besonderer Stellenwert zu. Dies
zeigt sich sowohl darin, dass die »kleine Schar« frommer Männer sich mit ihren
wenigen Möglichkeiten Christus hingab,1827 als auch in der Person Alards: Das Auc-
tarium zeichnet hier das Bild eines ungewöhnlichen, aber äußerst vorbildlichen Ab-
tes. Für Alard spielten Hierarchieunterschiede und Zeichen der Herrschaft keine
Rolle. In dieser idealen Gemeinschaft, in der Alard auf Augenhöhe mit seinen Mön-
chen lebte, übte der Abt seine Autorität im Einklang mit den Brüdern aus, ohne
über sie zu herrschen.1828 Zur Zeit der Abfassung dieses Textes dürfte der Wunsch
nach Harmonie und Eintracht noch ein ferner und frommer Wunsch gewesen sein.
Eine indirekte Anspielung auf den Kontext des Werks bietet zudem jene Passage,
in der Alard die Ehrerbietung eines Mönchs zurückwies. Sie macht deutlich, dass
es sich dabei um Alards persönliche Entscheidung handelte, die nicht zwangsläufig
Gültigkeit für seine Nachfolger hatte. Diese Passage impliziert doch, dass gerade
die Frage nach der dem Abt geschuldeten Ehrerbietung zur Zeit des Alvisus ein
zentrales und aktuelles Thema war, das vor allem im Zusammenhang mit der inne-
ren Situation der Gemeinschaft stand.1829 Besonders interessant ist dabei, dass das
Auctarium hier nicht für die eine oder die andere Haltung Partei ergreift. Vielmehr
wird dem individuellen Ermessen, der discretio, der künftigen Äbte ein besonderer
Stellenwert zugeschrieben.1830 Das Verhalten Alards ist somit zwar durchaus fromm
und nachahmenswert, hat aber keinerlei Verbindlichkeit für seine Nachfolger. Das
1826 Das Ideal der Weltflucht findet seinen besonderen Ausdruck auch im Namen der Abtei. Während die
Urkunden von 1079 Anchin noch als Aquacignus bezeichnen, taucht in einer Urkunde von 1092 die
Bezeichnung Aqniscincto auf, die sich in der Folgezeit mit leichten Variationen als Schreibweise durch-
setzt. Dank der linguistischen Studie von J. Herbillon, Le nom de l’abbaye d’Anchin, S. 176-178 wurde
der Ursprung des Namens Anchin näher beleuchtet. Die Schreibweise Aquacignus könne, seiner Mei-
nung nach, eine silbenweise vorgenommene Latinisierung eines pikardischen Wortes wie beispielsweise
Awichin darstellen. Dass man hierbei auf lateinisch cycnus zurückgegriffen hat, könnte, so Herbillon,
symbolische Gründe gehabt haben. Die pikardische Bezeichnung Awichin ist jedenfalls nicht mit ei-
nem Schwan in Verbindung zu bringen. Vielmehr handle es sich dabei um einen Diminutiv auf -kin
des Wortes agwih , was so viel bedeutet wie »fruchtbares Schwemmland entlang eines Flusses«. Die ab
den 1090er Jahren auftauchende Bezeichnung Aquiscinctus stellt eine direkte Latinisierung der Topo-
graphie dar. Dies wird in einer Urkunde von 1098 (J. P. Gerzaguet, Les chartes de l’abbaye d’Anchin,
D 16, S. 110-111) mehr als deutlich, wo es heißt: »quod ab aquis cingentibus Aquicincti vocabulum
sumpsit.« Dieser Befund lässt somit erkennen, dass die Mönche von Anchin ab den 1090er Jahren ihrer
Gemeinschaft einen Namen gaben, der nicht nur die Topographie der Abtei aufnahm, sondern zugleich
von hoher Symbolkraft war, da er das Ideal der Weltflucht semantisch aufgriff.
1827 Auctarium, S. 393: »Adgregantu ibi Deo devoti viri, se cum facultatulis suis Christo devoventes, eius
grex pusillus esse gestientes.«
1828 VgL dazu beispielsweise RB 64, 8: »Sciatque sibi oportere prodesse magis quam praeesse.«
1829 VgL dazu ganz ähnlich Simon von Saint-Bertin und die Frage nach der Ehrerbietung gegenüber dem
Abt, siehe oben S. 202.
1830 VgL zur discretio v.a. RB 64, 19: »[...] testimonia discretionis, matris virtutum [...].«
 
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