II.1. Narrativer Funktionskontext: Exemplarisches Erzählen im 13. Jahrhundert
45
Aus diesen methodischen Grundannahmen lassen sich vier Vermutungen ablei-
ten, die anhand ausgewählter Textbeispiele aus dem 13. Jahrhundert zu prüfen sein
werden:
1. Traditionen oder die Erfahrung gemeinschaftlicher Normen sind eine Voraus-
setzung für das Funktionieren exemplarischen Erzählens. Ein gemeinschaftsrelevan-
tes Handeln wie etwa das eingangs beschriebene Verspotten der Exkommunikation
durch den Apostolischen Legaten kann selbst mithilfe des Storch-Exempels nur als
deviant begriffen werden, wenn über die zugrundeliegende Regel des angemessenen
Gehorsams Konsens besteht.25
2. Zugleich zeigt die Erzählweise des exemplarischen Erzählens, „wie sich regel-
bewußtes Handeln auf unterschiedliche Kontexte einlassen kann“ (Rüsen). Indem es
nämlich einen jeden Akteur der „zeitenthobenen Geltung seiner Handlungsregeln“
bewusst macht, vermag dieser sich in der „Vielfalt von äußeren Handlungsbedingun-
gen“ zu orientieren. Auf diese Weise wird durch das exemplarische Erzählen „Zeit zu
einer Reihe von Anwendungsfällen zeitlos geltender Handlungsregeln,“26
3. Aus der (Selbst-)Verortung des Einzelnen in der gegenwärtigen Ausgestaltung
von Regeln folgt beinahe zwangsläufig eine Handlungsanleitung oder sogar Zu-
kunft s wei sung.27
4. Eine beständige Auseinandersetzung mit gemeinschaftlichen Normen, die in
der Vergangenheit gründen, in der Gegenwart zur Geltung kommen und leitend für
die Zukunft sind, erscheint vor diesem Hintergrund als zentrale Voraussetzung für
Gemeinschafts- bzw. Identitätsbildung oder auch -Versicherung. Regelkompetenz
(hier erneut im Sinne des Eingangsbeispiels gedacht) kann somit als Bedingung eines
erfolgreichen Beitrags zu einer Gemeinschaft verstanden werden; neben soziale
Praktiken, deren gemeinschaftsbildende Bedeutung in der jüngeren mediävistischen
Forschung betont wurde, können somit narrative Praktiken treten.28
Zieht man nun jene Texte und Sammlungen zu Rate, in denen Exempel im Hoch-
und Spätmittelalter zur Anwendung kamen, so lassen sich mehrere „Anwendungsge-
biete“ unterscheiden.29 Mit dem Tractatus des Stephan von Bourbon ist uns bereits ein
Typus begegnet, nämlich die Zusammenstellung und Anordnung von Exempeln nach
theologischen Gesichtspunkten. Bei dieser Art der Exempel-Verarbeitung tritt der
ursprüngliche Erzählzusammenhang, greifbar etwa in zeitlichem Kontext, sozialer
Umgebung oder einzelnen Akteuren, hinter das übergreifende Schema zurück. Dem
25 S. hierzu erneut Rüsen, Vier Typen, S. 196.
26 Rüsen, Vier Typen, S. 182.
27 Rüsen, Vier Typen, S. 189: „Der Fluß der Zeit kontinuiert sich in der Vorstellung, daß die zeitliche
Bewegung des menschlichen Handelns Vollzug überzeitlich geltender Handlungsregeln ist“.
28 Grundlegend hierzu: Lutter, Social Groups. S. außerdem Winkler, Building the Imagined Com-
munity sowie Rüsen, Vier Typen, S. 170.
29 Für die folgenden Ausführungen s. insbesondere Menzel, „Historiarum armarium“.
45
Aus diesen methodischen Grundannahmen lassen sich vier Vermutungen ablei-
ten, die anhand ausgewählter Textbeispiele aus dem 13. Jahrhundert zu prüfen sein
werden:
1. Traditionen oder die Erfahrung gemeinschaftlicher Normen sind eine Voraus-
setzung für das Funktionieren exemplarischen Erzählens. Ein gemeinschaftsrelevan-
tes Handeln wie etwa das eingangs beschriebene Verspotten der Exkommunikation
durch den Apostolischen Legaten kann selbst mithilfe des Storch-Exempels nur als
deviant begriffen werden, wenn über die zugrundeliegende Regel des angemessenen
Gehorsams Konsens besteht.25
2. Zugleich zeigt die Erzählweise des exemplarischen Erzählens, „wie sich regel-
bewußtes Handeln auf unterschiedliche Kontexte einlassen kann“ (Rüsen). Indem es
nämlich einen jeden Akteur der „zeitenthobenen Geltung seiner Handlungsregeln“
bewusst macht, vermag dieser sich in der „Vielfalt von äußeren Handlungsbedingun-
gen“ zu orientieren. Auf diese Weise wird durch das exemplarische Erzählen „Zeit zu
einer Reihe von Anwendungsfällen zeitlos geltender Handlungsregeln,“26
3. Aus der (Selbst-)Verortung des Einzelnen in der gegenwärtigen Ausgestaltung
von Regeln folgt beinahe zwangsläufig eine Handlungsanleitung oder sogar Zu-
kunft s wei sung.27
4. Eine beständige Auseinandersetzung mit gemeinschaftlichen Normen, die in
der Vergangenheit gründen, in der Gegenwart zur Geltung kommen und leitend für
die Zukunft sind, erscheint vor diesem Hintergrund als zentrale Voraussetzung für
Gemeinschafts- bzw. Identitätsbildung oder auch -Versicherung. Regelkompetenz
(hier erneut im Sinne des Eingangsbeispiels gedacht) kann somit als Bedingung eines
erfolgreichen Beitrags zu einer Gemeinschaft verstanden werden; neben soziale
Praktiken, deren gemeinschaftsbildende Bedeutung in der jüngeren mediävistischen
Forschung betont wurde, können somit narrative Praktiken treten.28
Zieht man nun jene Texte und Sammlungen zu Rate, in denen Exempel im Hoch-
und Spätmittelalter zur Anwendung kamen, so lassen sich mehrere „Anwendungsge-
biete“ unterscheiden.29 Mit dem Tractatus des Stephan von Bourbon ist uns bereits ein
Typus begegnet, nämlich die Zusammenstellung und Anordnung von Exempeln nach
theologischen Gesichtspunkten. Bei dieser Art der Exempel-Verarbeitung tritt der
ursprüngliche Erzählzusammenhang, greifbar etwa in zeitlichem Kontext, sozialer
Umgebung oder einzelnen Akteuren, hinter das übergreifende Schema zurück. Dem
25 S. hierzu erneut Rüsen, Vier Typen, S. 196.
26 Rüsen, Vier Typen, S. 182.
27 Rüsen, Vier Typen, S. 189: „Der Fluß der Zeit kontinuiert sich in der Vorstellung, daß die zeitliche
Bewegung des menschlichen Handelns Vollzug überzeitlich geltender Handlungsregeln ist“.
28 Grundlegend hierzu: Lutter, Social Groups. S. außerdem Winkler, Building the Imagined Com-
munity sowie Rüsen, Vier Typen, S. 170.
29 Für die folgenden Ausführungen s. insbesondere Menzel, „Historiarum armarium“.