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II. Das Werk
Analog zu den durch Wahl bestimmten religiösen Vorstehern schuldet auch die
Gemeinschaft der Bienen ihrem König Gehorsam. Dieser Gehorsam gilt nicht nur
dem Amt des Vorstehers, sondern auch den gemeinschaftlichen Normen. Damit ist
zugleich die Frage nach dem Umgang mit Verfehlungen innerhalb der Gemeinschaft
aufgeworfen. Ebenso wie von allen Beteiligten eine regelkonforme Lebensführung
anzustreben ist, ist Fehlverhalten in der Gemeinschaft zu beseitigen und schlechtes
Verhalten gegebenenfalls zu bestrafen.197
Was aber passiert, wenn die gemeinschaftliche Wahl nicht erfolgreich ist und ein
ungeeigneter, schlechter prelatus an die Spitze rückt? Auf der Grundlage ihrer Wahl-
verantwortung übt die Gemeinschaft grundsätzlich zwar eine gewisse Kontrollfunk-
tion aus; versagt sie jedoch bei der Wahl, so hat sie mit dem Zorn Gottes zu rechnen.
Dies gilt gleichermaßen für den Vorsteher, denn mit einer schlechten Amtsführung
vernachlässigt er nicht nur seine Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft sondern
auch gegenüber Gott, dem deshalb letztlich auch dessen Bestrafung obliegt.198
Neben den in den Exempeln vermittelten Normvorgaben kann ein solches Schick-
sal gleichermaßen als mahnendes Korrektiv wirken. Die Aussicht auf die Gottes-
strafe ist die logische Konsequenz der von Thomas beschriebenen sozialen Ordnung:
Für den Weg des Einzelnen bilden das Leben in einer hierarchisch strukturierten
Gemeinschaft und vor allem die aktive Beteiligung daran die Bedingung. Erfüllt je-
der die ihm zugedachten Aufgaben, so kann die religiöse Lebensführung in der Ge-
meinschaft gelingen. Gerät sie jedoch aus dem Gleichgewicht und vermag sie diese
Schieflage nicht selbst zu regulieren, so ist es letztlich allein Gott, der einen schlech-
ten Anführer zu bestrafen oder sogar zu beseitigen vermag.199
Diese Erfahrung macht in BUA 11,48,5 der berühmte Pariser Theologe Simon von
Tournai (um 1130-um 1201/03), dem Thomas das bekannte Diktum der drei Lügner
Moses, Jesus und Mohammed zuschreibt.200 Simon habe zwar
„in Paris Theologie gelehrt und war in seiner Zeit herausragend; aber gegen den An-
stand seines Amtes war er über die Maße zügellos und hochmütig. Er hatte mehr
197 Thom. Cantimpr. BUA 1,17,1: Seduli ergo priores in cenobiis et decani in canoniis in corrigendis
et extirpandis vitiis semper sint, ne etiam si proprias non habuerint, subditorum negligentiis obrn-
antur.
198 Thom. Cantimpr. BUA 1,3,7: Quot modispeccat et reus est, qui talesprelatos creat et eligit, duobus
versibus dici polest: Peccat in auctorem, pervertit ins, tribulatur pax Status ecclesie, pro quo reus
hie feriatur. In demselben Kapitel (Abschnitt 1,3,4) berichtet Thomas von einem luxussüchtigen
und hochmütigen Bischof, der nicht nur einen plötzlichen Tod stirbt, sondern auch vor den höchs-
ten Richter gebracht wird. Dort erhält er für seine Lebensführung die schlimmste Strafe: eine
sequentielle Degradierung durch Ablegen seiner Amtskleider sowie -insignien und schließlich die
Verdammung in die Unterwelt. S. zu dieser Strafmaßnahme Schimmelpfennig, Degradation.
199 S. dazu Showalter, Business of Salvation, S. 572.
200 Zu Simon s. Glorieux, Repertoire I, Nr. 101, S. 232-233 sowie Madey, Art. „Simon von Tournai”.
Zur Verarbeitung seiner Geschichte im „Bienenbuch“ s. außerdem Gazziero, Simon de Tournai
sowie Schürer, Das Exemplum, S. 143-144.
II. Das Werk
Analog zu den durch Wahl bestimmten religiösen Vorstehern schuldet auch die
Gemeinschaft der Bienen ihrem König Gehorsam. Dieser Gehorsam gilt nicht nur
dem Amt des Vorstehers, sondern auch den gemeinschaftlichen Normen. Damit ist
zugleich die Frage nach dem Umgang mit Verfehlungen innerhalb der Gemeinschaft
aufgeworfen. Ebenso wie von allen Beteiligten eine regelkonforme Lebensführung
anzustreben ist, ist Fehlverhalten in der Gemeinschaft zu beseitigen und schlechtes
Verhalten gegebenenfalls zu bestrafen.197
Was aber passiert, wenn die gemeinschaftliche Wahl nicht erfolgreich ist und ein
ungeeigneter, schlechter prelatus an die Spitze rückt? Auf der Grundlage ihrer Wahl-
verantwortung übt die Gemeinschaft grundsätzlich zwar eine gewisse Kontrollfunk-
tion aus; versagt sie jedoch bei der Wahl, so hat sie mit dem Zorn Gottes zu rechnen.
Dies gilt gleichermaßen für den Vorsteher, denn mit einer schlechten Amtsführung
vernachlässigt er nicht nur seine Verpflichtung gegenüber der Gemeinschaft sondern
auch gegenüber Gott, dem deshalb letztlich auch dessen Bestrafung obliegt.198
Neben den in den Exempeln vermittelten Normvorgaben kann ein solches Schick-
sal gleichermaßen als mahnendes Korrektiv wirken. Die Aussicht auf die Gottes-
strafe ist die logische Konsequenz der von Thomas beschriebenen sozialen Ordnung:
Für den Weg des Einzelnen bilden das Leben in einer hierarchisch strukturierten
Gemeinschaft und vor allem die aktive Beteiligung daran die Bedingung. Erfüllt je-
der die ihm zugedachten Aufgaben, so kann die religiöse Lebensführung in der Ge-
meinschaft gelingen. Gerät sie jedoch aus dem Gleichgewicht und vermag sie diese
Schieflage nicht selbst zu regulieren, so ist es letztlich allein Gott, der einen schlech-
ten Anführer zu bestrafen oder sogar zu beseitigen vermag.199
Diese Erfahrung macht in BUA 11,48,5 der berühmte Pariser Theologe Simon von
Tournai (um 1130-um 1201/03), dem Thomas das bekannte Diktum der drei Lügner
Moses, Jesus und Mohammed zuschreibt.200 Simon habe zwar
„in Paris Theologie gelehrt und war in seiner Zeit herausragend; aber gegen den An-
stand seines Amtes war er über die Maße zügellos und hochmütig. Er hatte mehr
197 Thom. Cantimpr. BUA 1,17,1: Seduli ergo priores in cenobiis et decani in canoniis in corrigendis
et extirpandis vitiis semper sint, ne etiam si proprias non habuerint, subditorum negligentiis obrn-
antur.
198 Thom. Cantimpr. BUA 1,3,7: Quot modispeccat et reus est, qui talesprelatos creat et eligit, duobus
versibus dici polest: Peccat in auctorem, pervertit ins, tribulatur pax Status ecclesie, pro quo reus
hie feriatur. In demselben Kapitel (Abschnitt 1,3,4) berichtet Thomas von einem luxussüchtigen
und hochmütigen Bischof, der nicht nur einen plötzlichen Tod stirbt, sondern auch vor den höchs-
ten Richter gebracht wird. Dort erhält er für seine Lebensführung die schlimmste Strafe: eine
sequentielle Degradierung durch Ablegen seiner Amtskleider sowie -insignien und schließlich die
Verdammung in die Unterwelt. S. zu dieser Strafmaßnahme Schimmelpfennig, Degradation.
199 S. dazu Showalter, Business of Salvation, S. 572.
200 Zu Simon s. Glorieux, Repertoire I, Nr. 101, S. 232-233 sowie Madey, Art. „Simon von Tournai”.
Zur Verarbeitung seiner Geschichte im „Bienenbuch“ s. außerdem Gazziero, Simon de Tournai
sowie Schürer, Das Exemplum, S. 143-144.