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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0080
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Stellenkommentar WA 3, KSA 6, S. 17 61

tung erhoben werden sollte. Diesen Plan wies nun der Direktor entschieden
zurück und entdeckte mir offen, es handele sich bei der Aufführung einer Oper
nicht allein um ein Ballet, sondern namentlich darum, daß dieses Ballet in
der Mitte des Theaterabends getanzt werde; denn erst um diese Zeit träten
diejenigen Abonnenten, denen das Ballet fast ausschließlich angehöre, in ihre
Logen, da sie erst sehr spät zu diniren pflegten; ein im Anfänge ausgeführtes
Ballet könne diesen daher nicht genügen, weil sie eben nie im ersten Akte
zugegen wären." (Wagner 1871-1873, 7, 185 f. = Wagner 1907, 7, 140 f.) Welche
Folgen diese Weigerung Wagners hatte, konnte N. in Malwida von Meysenbugs
Memoiren einer Idealistin erfahren: „Endlich aber — und dies war die Hauptsa-
che — waren die jungen Pariser Löwen, die Herren des Jockey-Clubs, empört,
dass kein Ballet in der gewöhnlichen Form und zu der gewöhnlichen Zeit, d. h.
im zweiten Akt, stattfinde. Es war notorisch, dass die Balletdamen eine Erhö-
hung ihrer Gage von diesen Herren erhielten, und dass /293/ die Letzteren
gewohnt waren, nach beendigtem Diner in die Oper zu gehen, nicht um Har-
monien zu hören, sondern um die unnatürlichste und scheusslichste Ausge-
burt der modernen Kunst, das Ballet, zu sehen, nach dessen Beendigung sie
sich hinter die Coulissen zu näherem Verkehr mit den springenden Nymphen
begaben. Was lag diesen vornehmen Wüstlingen an der Aufführung eines
keuschen Kunstwerks, welches den Sieg der heiligen Liebe über den Sinnen-
rausch feiert? Oder vielmehr es lag ihnen nicht nur nichts daran, sondern sie
mussten es von vornherein, noch ehe sie es gehört hatten, hassen und verdam-
men. Es war ja das Gottesurtheil ihrer inneren Gemeinheit, ihrer maßlosen
Verdorbenheit. Von diesen ging denn auch die Hauptintrigue unter denen, die
sich zum Falle der Aufführung vorbereiteten, aus. [...] /294/ [...] Die Ouvertüre
und der erste Act verliefen ohne Störung, und obwohl die Anordnung des
gespenstischen Götterreigens im Venusberg weit hinter Wagner's Idee zurück-
blieb und die drei Grazien im rosa Balletkleid erschienen, so war es doch so,
dass ich aufathmete und hoffte, die Befürchtungen würden zu Schanden wer-
den. Aber bei der Wandlung der Scene, bei dem hinreissend poetischen Wech-
sel aus dem wüsten Bacchanal da unten in die reine Morgenstille des Thüringer
Waldthals, bei den Klängen der Schalmei und des Hirtenliedes, brach plötzlich
der lang /295/ vorbereitete Angriff aus und ein gewaltiges Pfeifen und Lärmen
unterbrach die Musik." ([Meysenbug] 1876, 3, 292-295) Während die Mitglieder
des Jockey-Clubs also „durch ein Wagnerisches Ballet zur Verzweiflung
gebracht" wurden, war die Pariser Auseinandersetzung über das Tannhäuser-
Ballett für Meysenbug sichtlich ein Meilenstein auf dem Weg zu ihrem Tugend-
ideal: „Dann hatte ich den Künstler gefunden, dessen Streben mir allein ein
neues Ideal verwirklichte und mir die Ahnung bestätigte, daß das Reich des
Ideals überhaupt nur in der Kunst sei." (Ebd., 301) Entsprechend scharf grenzt
 
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