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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,1): Kommentar zu Nietzsches "Der Fall Wagner", "Götzen-Dämmerung" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.70913#0340
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Stellenkommentar GD Moral, KSA 6, S. 83-84 321

sich 84, 7-9 der Perspektive des „Freigeistes" anverwandeln zu wollen: Das
Malum der Kirche wird kompensiert durch das Bonum, dass sie die Existenz
von Immoralisten und Antichristen erst ermöglicht. In AC GWC, KSA 6, 254,
4. f. erklärt N. entgegen 84, 7-9 dem Christentum einen „Todkrieg".
84, 8 Antichristen] Während „Antichrist" im Singular und mit dem bestimm-
ten Artikel bei N. sogar zum Buchtitel (AC) avanciert und die mythologische
Endzeitfigur, damit die finale Erledigung des Christentums evoziert (vgl. NK
ÜK AC), ist der Plural „Antichristen" (ohne bestimmten Artikel) in N.s Werk
recht selten (neben 84, 8 nur noch in GM III 24, KSA 5, 398, 29 sowie AC 38,
KSA 6, 211, 4). Gemeint sind damit einfach Gegner des Christentums. Andere
Sprachen machen den Unterschied deutlicher (The Antichrist — antichristians;
L'Antechrist — antichretiens). Als Atheisten und „antichretiens" hatte N. bei-
spielsweise bei Albert 1885, 2, 300 (Lesespur N.s, NPB 107) Stendhal und Meri-
mee charakterisiert gefunden.
84, 13 dasselbe gilt von der grossen Politik.] „Grosse Politik" ist ein Begriff,
der bei N. zunächst negativ konnotiert ist, im Spätwerk aber zu einer positiven
Losung avanciert: Sie soll die Absicht des gesetzgebenden Philosophen kund-
tun, jenseits aller kleinen, partikularen und nationalen Politik die Geschicke
der Welt als ganze zu gestalten, vgl. z. B. Ottmann 1999, 239-312 u. Marti 1993,
269-295. Zum Zusammenhang von „grosser Politik" und Demokratie ausführ-
lich Siemens 2008.
84, 13-15 Eine neue Schöpfung zumal, etwa das neue Reich, hat Feinde nöthi-
ger als Freunde] Stellen wie diese scheinen die auch realpolitisch militante
Aggressivität von N.s späten Verlautbarungen zu unterstreichen: Dass mit
„Reich" im Unterschied zu 85, 30 nichts Jenseitiges, sondern das damalige
Deutsche Reich gemeint ist, liegt auf der Hand.
84, 16-18 Nicht anders verhalten wir uns gegen den „inneren Feind": auch da
haben wir die Feindschaft vergeistigt, auch da haben wir ihren Werth begrif-
fen.] Die Wendung „innerer Feind" ist in N.s Werken schon früh präsent,
zunächst ohne Anführungszeichen in UB I DS 1, KSA 1, 160, 32-161, 1 als eine
Umprägung der politisch gemeinten Rede vom inneren Feind zu eigenen kul-
turkritischen Zwecken: Die fälschlich „Kultur" genannte „unnationale ,Gebil-
detheit"' sei der „innere Feind". Sodann werden in MA I 141 die Strategien des
Asketen und Heiligen beschrieben, „sich das Leben doch noch erträglich und
unterhaltend zu machen. [...] Dazu braucht er einen Gegner und findet ihn
in dem sogenannten ,inneren Feinde'" — namentlich in seinen „sinnlichen
Begierden" (KSA 2, 134, 9-14). Dies wiederum erhellt den Kontext religiösen
Sprechens in 84, 16-18: Man erklärt das in einem selbst Widerstrebende zum
 
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