I Überblickskommentar
1 Entstehungs- und Textgeschichte
Den Winter 1887/88 verbrachte N. in Nizza, von wo aus er sich am 03. 02. 1888
an Franz Overbeck in Basel wandte. In diesem Brief (KSB 8, Nr. 984, S. 242,
Z. 8-28) sah er zum einen „die Umrisse der ohne allen Zweifel ungeheuren
Aufgabe, die jetzt vor mir steht", aufsteigen, beklagte zum anderen aber „ganze
Tage und Nächte", „wo ich nicht mehr wußte, wie leben und wo mich eine
schwarze Verzweiflung ergriff, wie ich sie bisher noch nicht erlebt habe. Trotz-
dem weiß ich, daß ich weder rückwärts, noch rechts, noch links weg ent-
schlüpfen kann: ich habe gar keine Wahl." Weiter heißt es: „Man soll jetzt
nicht von mir ,schöne Sachen' erwarten: so wenig man einem leidenden und
verhungernden Thiere zumuthen soll, daß es mit Anmuth seine Beute zer-
reißt. Der jahrelange Mangel einer wirklich erquickenden und heilenden
menschlichen Liebe, die absurde Vereinsamung, die es mit sich bringt,
daß fast jeder Rest von Zusammenhang mit Menschen nur eine Ursache von
Verwundungen wird: das Alles ist vom Schlimmsten und hat nur Ein Recht für
sich, das Recht, nothwendig zu sein." „Schöne Sachen" hat N. 1888 vielleicht
mit Ausnahme der Dionysos-Dithyramben tatsächlich nicht mehr verfertigt.
Briefstellen wie diese, so aufschlussreich sie sein mögen, verleiten dazu, die
Produkte von N.s letztem Schaffensjahr als Erzeugnisse eines desolaten physi-
schen und psychischen Zustandes zu verharmlosen und sie allenfalls für bio-
und pathographisch einschlägig zu halten. Damit verfehlt man aber die eigent-
lichen, in N.s Augen welt- und moralerschütternden Probleme, die diese Schrif-
ten aufwerfen und zu bewältigen beabsichtigen. Das im Brief an Overbeck
beschworene „Recht, nothwendig zu sein", bedeutet gerade, dass es nicht die
individuelle Situation ist, die jene Schriften bestimmen soll, sondern vielmehr
das, was der Welt insgesamt nottut. Seine eigene Anfälligkeit für Krankheit
und Leiden aller Art interpretierte N. als eine (der decadence geschuldete)
Überempfindlichkeit für die geheimen Leiden der Kultur. Zweifellos ist N.
Anfang 1889 in einen pathologischen Zustand gefallen, der bald die Züge irre-
versibler Demenz annahm. (Früher hat man dafür — trotz erbitterter Gegenrede
von Elisabeth Förster-N. — gerne eine luetische Infektion dafür verantwortlich
gemacht; jüngste medizinhistorische Studien anhand der überlieferten Symp-
tome legen eher ein Meningeom — Sax 2003 — oder ein MELAS-Syndrom —
Koszka 2009 u. 2010 — nahe, wobei sich der Verdacht aufdrängt, dass die
retrospektiven Diagnosen ohne neue Materialevidenzen den jeweiligen medizi-
nischen Moden der Gegenwart folgen.) Dennoch ändert der Ausbruch der
1 Entstehungs- und Textgeschichte
Den Winter 1887/88 verbrachte N. in Nizza, von wo aus er sich am 03. 02. 1888
an Franz Overbeck in Basel wandte. In diesem Brief (KSB 8, Nr. 984, S. 242,
Z. 8-28) sah er zum einen „die Umrisse der ohne allen Zweifel ungeheuren
Aufgabe, die jetzt vor mir steht", aufsteigen, beklagte zum anderen aber „ganze
Tage und Nächte", „wo ich nicht mehr wußte, wie leben und wo mich eine
schwarze Verzweiflung ergriff, wie ich sie bisher noch nicht erlebt habe. Trotz-
dem weiß ich, daß ich weder rückwärts, noch rechts, noch links weg ent-
schlüpfen kann: ich habe gar keine Wahl." Weiter heißt es: „Man soll jetzt
nicht von mir ,schöne Sachen' erwarten: so wenig man einem leidenden und
verhungernden Thiere zumuthen soll, daß es mit Anmuth seine Beute zer-
reißt. Der jahrelange Mangel einer wirklich erquickenden und heilenden
menschlichen Liebe, die absurde Vereinsamung, die es mit sich bringt,
daß fast jeder Rest von Zusammenhang mit Menschen nur eine Ursache von
Verwundungen wird: das Alles ist vom Schlimmsten und hat nur Ein Recht für
sich, das Recht, nothwendig zu sein." „Schöne Sachen" hat N. 1888 vielleicht
mit Ausnahme der Dionysos-Dithyramben tatsächlich nicht mehr verfertigt.
Briefstellen wie diese, so aufschlussreich sie sein mögen, verleiten dazu, die
Produkte von N.s letztem Schaffensjahr als Erzeugnisse eines desolaten physi-
schen und psychischen Zustandes zu verharmlosen und sie allenfalls für bio-
und pathographisch einschlägig zu halten. Damit verfehlt man aber die eigent-
lichen, in N.s Augen welt- und moralerschütternden Probleme, die diese Schrif-
ten aufwerfen und zu bewältigen beabsichtigen. Das im Brief an Overbeck
beschworene „Recht, nothwendig zu sein", bedeutet gerade, dass es nicht die
individuelle Situation ist, die jene Schriften bestimmen soll, sondern vielmehr
das, was der Welt insgesamt nottut. Seine eigene Anfälligkeit für Krankheit
und Leiden aller Art interpretierte N. als eine (der decadence geschuldete)
Überempfindlichkeit für die geheimen Leiden der Kultur. Zweifellos ist N.
Anfang 1889 in einen pathologischen Zustand gefallen, der bald die Züge irre-
versibler Demenz annahm. (Früher hat man dafür — trotz erbitterter Gegenrede
von Elisabeth Förster-N. — gerne eine luetische Infektion dafür verantwortlich
gemacht; jüngste medizinhistorische Studien anhand der überlieferten Symp-
tome legen eher ein Meningeom — Sax 2003 — oder ein MELAS-Syndrom —
Koszka 2009 u. 2010 — nahe, wobei sich der Verdacht aufdrängt, dass die
retrospektiven Diagnosen ohne neue Materialevidenzen den jeweiligen medizi-
nischen Moden der Gegenwart folgen.) Dennoch ändert der Ausbruch der