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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0053
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30 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum

noch ein" findet sich schon in Goethes Jugendwerk Die Mitschuldigen (1. Auf-
zug, 7. Auftritt): „O das verfluchte Spiel! o wär' der Kerl gehangen! / Bei'm
Abzug war's nicht just; doch muß ich stille sein, / Er haut und schießt sich
gleich! / Ich weiss nicht aus noch ein." (Goethe 1891, 61, V. 324-326).
Die Moderne, die in AC 1 die Kontrastfolie zu den Hyperboreern abgibt,
zeichnet sich durch Unentschlossenheit aus — eine Krankheit, welche die
„Wir" überwunden haben (169, 11). Der „moderne Mensch" steht im Geruch
der decadence, als deren „physiologische Thatsächlichkeit" gilt: ,„ich weiss
meinen Nutzen nicht mehr zu finden"' (GD Streifzüge eines Unzeitgemässen
35, KSA 6, 133, 31-134, 1). Zur Interpretation von 169, 9-11 vgl. z. B. Braatz 1988,
186.
169, 12 f. an der ganzen tugendhaften Unsauberkeit des modernen Ja und Nein]
Die „Wir" hingegen haben das klare Ja und Nein gefunden (169, 24 f.). Immer-
hin gilt die Forderung nach Klarheit im Ja und Nein als jesuanisch: „Eure Rede
aber sey: Ja, ja; nein, nein: was drüber ist, das ist vom Uebel." (Matthäus 5,
37 [Die Bibel: Neues Testament 1818, 8]) Was gutzuheißen und was abzulehnen
sei, wird in AC 2 explizit gemacht.
169, 13-15 Diese Toleranz und largeur des Herzens, die Alles „verzeiht", weil
sie Alles „begreift"] Ursprünglich hatte dieser Satz im Druckmanuskript gelau-
tet: „Diese Toleranz und largeur des Herzens, die noch alle Kinder zu sich
kommen heißt" (KSA 14, 437). Das fast unverstellte Bibelzitat (Markus 10, 14)
hätte einen viel offensichtlicheren Zusammenhang von christlicher und moder-
ner Moralität hergestellt, als er im Text letzter Hand zutage tritt. N. hat sich
diese Pointe aufgespart und attackiert die moderne Weitherzigkeit in AC 1 abge-
koppelt von ihrer Entstehung im Schoße christlicher Gesinnung. In NL 1887/
88, KSA 13, 11[151], 71, 30 (KGW IX 7, W II 3, 135, 54), spricht N. von der „largeur
(de coeur)", die den starken Naturen entgegenkomme, aber die Mittelmäßigen
zerbreche. Unter dem Titel „Zuchtlosigkeit des modernen Geistes"
führt NL 1887, KSA 12, 9[165], 432 (korrigiert nach KGW IX 6, W II 1, 18, 7-10)
die „largeur de Sympathie" an: „la largeur de sympathie (= ein Drittel Indiffe-
renz, ein Drittel Neugierde, ein Drittel krankhafte Erregbarkeit())".
Über die Nähe der „largeur de sympathie" zur „indifference" hatte sich N.
bei Brunetiere 1887, 325 kundig gemacht (Nachweis bei Campioni 1992, 404).
Brunetiere 1887, 272 setzt die „largeur d'esprit" direkt mit „indifference"
gleich — und zwar in einem Argument gegen Versuche, Voltaire mit Rousseau
zu versöhnen. Der Ausdruck „largeur du coeur", der so in EH Warum ich so
klug bin 3, KSA 6, 285, 3 gebraucht wird, kommt beispielsweise bei Francois
de Salignac de La Mothe-Fenelon vor, so in seinem Brief an den Herzog von
Beauvilliers vom 04. 11. 1703: „Je profite avec beaucoup de joie, mon bon duc,
 
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