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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0055
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32 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum

„sich ergeben" nicht erst seit Luther gern in religiösem Kontext gebraucht wird:
sich Gott ergeben (vergleiche etwa 2. Korinther 8, 5). Bei dieser Verwendung
fließen patientia und deditio ineinander (vgl. Grimm 1854-1971, 3, 816 f.).
169, 24 f. Formel unsres Glücks: ein Ja, ein Nein, eine gerade Linie, ein Ziel...]
Als „Formel meines Glücks" erscheint die Wendung in GD Sprüche und Pfeile
44, KSA 6, 66, llf. Vgl. oben NK 169, 12 f.
2-3
Zur Textgenese siehe NK KSA 6, 130, 27-134, 12.
2
In der Form macht AC 2 mit seiner Frageform und den knappen Antworten
Anleihen bei Katechismen der Reformationszeit (vgl. auch ÜK EH 4). N. hatte
auch schon in FW 268-275, KSA 3, 519 mit ähnlichen Katechismusfragen ope-
riert. Die Antworten von AC 2 wirken in ihrer Knappheit formelhaft. Gerade
diese Formelhaftigkeit in den Antworten akzentuiert das Parodistische des gan-
zen Paragraphen, mag es N. mit dem Gehalt der Antworten noch so ernst sein.
Denn wer diese Antworten nachbetet, huldigt eben jener „Tugend", deren
Abschaffung AC propagiert: „nicht Tugend, sondern Tüchtigkeit (Tugend im
Renaissance-Stile, virtü, moralinfreie Tugend)" wird in 170, 8-10 gerade ver-
langt. Hyperboreer nach AC 1 zeichnen sich dadurch aus, dass sie keine vorge-
fertigten Antworten akzeptieren. Darin liegt eine Grundproblematik von AC:
Dessen Verfasser scheint einerseits Jünger gewinnen, eine neue immoralisti-
sche Moral begründen zu wollen, andererseits einen radikalen Individualis-
mus, eine völlig subjektivierte Sichtweise zu fordern, die niemandem mehr
vorschreiben kann, was er zu glauben oder wie er zu werten habe. AC 2 ist
nicht wirklich dialogisch angelegt, sondern ähnelt einem Responsorium zwi-
schen Gemeinde und Priester. N. hält nun Antworten auf die Frage nach gut,
schlecht, Glück und Schädlichkeit bereit, denen unbedingter Gehorsam
geschuldet zu sein scheint. Von einer Genealogie der Moral, welche die
Begriffspaare „gut"/„böse", „schlecht"/„gut" auf ihre Entstehungsbedingun-
gen zurückführt, sie zeit- und sprachkritisch bricht, ist das weit entfernt. Den-
noch ist ein wesentliches Resultat der genealogischen Moralkritik erhalten
geblieben: dass nämlich die bisherige Moral kontingent und somit umwertbar
sei. Die neue Wertetafel versucht jene Wertlücke zu füllen, die durch das Über-
 
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