Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0057
Lizenz: In Copyright

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
34 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum

faitement pour nous montrer que les sensations agreables s'accompagnent
d'une augmentation de l'energie, tandis que les desagreables s'accompagnent
d'une diminution. La sensation de plaisir se resout donc dans une sensation de
puissance; la sensation de deplaisir dans une sensation d'impuissance." („Diese
verschiedenen Erfahrungen ergänzen sich perfekt, um uns zu zeigen, dass die
angenehmen Empfindungen von einer Energiezunahme, während die unange-
nehmen von einer Energieabnahme begleitet werden. Das Empfinden von
Freude bringt also ein Machtgefühl mit sich; das Empfinden von Verdruss hinge-
gen ein Ohnmachtsgefühl.")
Substanzmetaphysisch lässt sich N.s Machtbegriff hier offensichtlich nicht
mehr fassen. Der „Wille zur Macht" wird durch die beiden Appositionen
„Gefühl der Macht" und „Macht selbst" zwar in ein Bezugsfeld gesetzt, nicht
aber, wie es auf Anhieb schien, definitorisch eingegrenzt. Eher wird mit den
drei Begriffen eine aufsteigende Linie zu immer reinerer Ausprägung, das
heißt, größerer Selbstgewissheit der Macht gezogen. Offen bleibt, ob das
„Gefühl der Macht" dem „Willen zur Macht" und schließlich gar der „Macht
selbst" in der Sache entspricht: Ist das „Gefühl der Macht" schon die „Macht
selbst"? Entscheidend ist der Aspekt der Steigerung: N.s Willen zur Macht
meint nicht Kraft- oder Selbsterhaltung, die bloß reaktiv sein könnte, sondern
die Entfaltung einer Aktivität, die sich in der Steigerung, in der Selbstüberwin-
dung, im Mehr-haben-Wollen manifestiert. Im Wesen der Macht liegt es, nie
mit dem Gegebenen zufrieden zu sein. Für jedes Seiende, das als solches Wille
zur Macht ist, ist die Realisation, die Steigerung dieses Willens zur Macht
„gut", das heißt, ihm zuträglich.
Wenn, der Allaussage entsprechend, alles, was das „Gefühl der Macht"
„erhöht", gut sein soll, dann müsste dies ebenso für die Machtergreifung durch
die „Priester" (vgl. GM III 15, KSA 5, 372) oder den Pöbel gelten, deren ,Usurpa-
tion' später schärfster Kritik verfällt. In der Tat kann eine solche positive Quali-
fizierung auch des plebejischen oder „priesterlichen" Machtriebs nicht ausge-
schlossen werden, wenn man „gut" in einem außermoralischen Sinne auffasst.
Für eine trockene Sachaussage wäre die Katechismusstrenge aber nicht sehr
angebracht: Wollte N. bloß sagen, jedes Seiende verwirkliche seinen Willen zur
Macht, weil es selber Wille zur Macht ist, dann bräuchte er dies nicht in Form
von Glaubenssätzen zu tun. Wenn „gut" in AC 2 hingegen die Durchsetzung
eigener Machtinteressen gegen die Bedürfnisse der Masse ausdrückt, ist eben
doch nicht alles „gut", was das „Gefühl der Macht" „erhöht". Dass man hier
die eingeschränkte ,aristokratische' Bedeutung von „gut" ansetzen muss,
beweist der Kontext von AC 2: Es geht um „Tugend im Renaissance-Stile" (170,
9). Demnach hat man die definitorische Verallgemeinerung mit Vorsicht zur
Kenntnis zu nehmen. Zur Problematik des Machtbegriffs in AC 2 vgl. auch
Porter 1999, 157-159.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften