36 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum
einschlägigen Passagen hat N. sich angestrichen. Brobjer diskutiert auch die
Frage, inwiefern N. Machiavelli selber gelesen hat, in dessen Principe die Ent-
gegensetzung von fortuna und virtü leitend ist. Der Ausdruck „virtü" kommt
in N.s publizierten Werken neben 170, 9 nur noch in EH Warum ich so klug
bin, KSA 6, 279, 8, dafür aber seit 1885 mehr als ein Dutzend Mal im Nachlass
vor. Als weitere Quelle ist das Machiavelli-Porträt zu berücksichtigen, das Karl
Hillebrand in seinen Profilen entworfen hat. Hillebrand 1886b, 302 erörtert
„virtü" allgemein, ebd., 306 im Zusammenhang mit Cesare Borgia.
Il principe hat N. wohl 1862 zum ersten Mal zur Kenntnis genommen, ohne
dass diese Lektüre einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen zu haben scheint
(vgl. Gerhardt 1989a, 93 f.). Nach Ottmann 1999, 287-292 hat N. an Machiavelli
vor allem den Realismus, die Abkehr von platonischer Moral und das Anti-
christentum geschätzt. Obwohl es bei N. ,„Macchiavellismus‘ zur Macht" gibt,
mit dem die Unterdrückten zur Herrschaft kommen wollen (NL 1887, KSA 12,
9[145], 419 = KGW IX 6, W II 1, 33-34), hat der Begriff doch meist eine positive
Färbung: „Nun wird kein Philosoph darüber in Zweifel sein, was (der) Typus
der Vollkommenheit in der Politik ist; nämlich der Macchiavellismus. Aber der
Macchiavellismus, pur, sans melange, cru, vert, dans toute sa force, dans toute
son äprete ist übermenschlich, göttlich, transscendent, er wird von Menschen
nie erreicht, höchstens gestreift." (NL 1887/88, KSA 13, 11[54], 25, 30-26, 3,
korrigiert nach KGW IX 7, W II 3, 176, 21-25; in einer früheren Fassung lautet
dieselbe Passage nach KGW IX 7, W II 3, 176, 22-24: „Nun weiß jedermann, was
die vollkommenste Art aller Politik ist: nämlich der Macchiavellismus. (A)ber
der Macchiavellismus cru pur ist übermenschlich, er wird nie erreicht"). Vgl.
auch NK KSA 6, 156, 10-14.
170, 9 f. moralinfreie Tugend) Vgl. NK 240, 5 u. NK KSA 6, 18, 19.
170, 11-13 Die Schwachen und Missrathnen sollen zu Grunde gehn: erster Satz
unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.] Dieser Passus
erinnert stark an die berüchtigte „Moral für Ärzte" (GD Streifzüge eines
Unzeitgemässen 36, KSA 6, 134-136) mit ihren Euthanasie-Ratschlägen. Aller-
dings lohnt eine genaue Lektüre: Beim Sollen im ersten Satz 170, 11 sind die
„Schwachen" selber Subjekt, obschon sie bislang gar nie Adressaten gewesen
sind. „Sollen" hat hier eher eine ontologische statt deontologische Färbung:
Alles Schwache ist dazu bestimmt, unterzugehen, ganz gleich, ob „man" ihm
dabei hilft oder es unterlässt. Dennoch ist es der „erste Satz unsrer Men-
schenliebe", was die bekennenden ,Starken' wiederum zu den versteckten
Handlungssubjekten der auf die „Schwachen und Missrathnen" gemünzten
Forderung macht: Sie haben dafür zu sorgen, dass das zum Untergang
Bestimmte auch wirklich den Untergang erleidet. Wie Schwäche und Missra-
einschlägigen Passagen hat N. sich angestrichen. Brobjer diskutiert auch die
Frage, inwiefern N. Machiavelli selber gelesen hat, in dessen Principe die Ent-
gegensetzung von fortuna und virtü leitend ist. Der Ausdruck „virtü" kommt
in N.s publizierten Werken neben 170, 9 nur noch in EH Warum ich so klug
bin, KSA 6, 279, 8, dafür aber seit 1885 mehr als ein Dutzend Mal im Nachlass
vor. Als weitere Quelle ist das Machiavelli-Porträt zu berücksichtigen, das Karl
Hillebrand in seinen Profilen entworfen hat. Hillebrand 1886b, 302 erörtert
„virtü" allgemein, ebd., 306 im Zusammenhang mit Cesare Borgia.
Il principe hat N. wohl 1862 zum ersten Mal zur Kenntnis genommen, ohne
dass diese Lektüre einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen zu haben scheint
(vgl. Gerhardt 1989a, 93 f.). Nach Ottmann 1999, 287-292 hat N. an Machiavelli
vor allem den Realismus, die Abkehr von platonischer Moral und das Anti-
christentum geschätzt. Obwohl es bei N. ,„Macchiavellismus‘ zur Macht" gibt,
mit dem die Unterdrückten zur Herrschaft kommen wollen (NL 1887, KSA 12,
9[145], 419 = KGW IX 6, W II 1, 33-34), hat der Begriff doch meist eine positive
Färbung: „Nun wird kein Philosoph darüber in Zweifel sein, was (der) Typus
der Vollkommenheit in der Politik ist; nämlich der Macchiavellismus. Aber der
Macchiavellismus, pur, sans melange, cru, vert, dans toute sa force, dans toute
son äprete ist übermenschlich, göttlich, transscendent, er wird von Menschen
nie erreicht, höchstens gestreift." (NL 1887/88, KSA 13, 11[54], 25, 30-26, 3,
korrigiert nach KGW IX 7, W II 3, 176, 21-25; in einer früheren Fassung lautet
dieselbe Passage nach KGW IX 7, W II 3, 176, 22-24: „Nun weiß jedermann, was
die vollkommenste Art aller Politik ist: nämlich der Macchiavellismus. (A)ber
der Macchiavellismus cru pur ist übermenschlich, er wird nie erreicht"). Vgl.
auch NK KSA 6, 156, 10-14.
170, 9 f. moralinfreie Tugend) Vgl. NK 240, 5 u. NK KSA 6, 18, 19.
170, 11-13 Die Schwachen und Missrathnen sollen zu Grunde gehn: erster Satz
unsrer Menschenliebe. Und man soll ihnen noch dazu helfen.] Dieser Passus
erinnert stark an die berüchtigte „Moral für Ärzte" (GD Streifzüge eines
Unzeitgemässen 36, KSA 6, 134-136) mit ihren Euthanasie-Ratschlägen. Aller-
dings lohnt eine genaue Lektüre: Beim Sollen im ersten Satz 170, 11 sind die
„Schwachen" selber Subjekt, obschon sie bislang gar nie Adressaten gewesen
sind. „Sollen" hat hier eher eine ontologische statt deontologische Färbung:
Alles Schwache ist dazu bestimmt, unterzugehen, ganz gleich, ob „man" ihm
dabei hilft oder es unterlässt. Dennoch ist es der „erste Satz unsrer Men-
schenliebe", was die bekennenden ,Starken' wiederum zu den versteckten
Handlungssubjekten der auf die „Schwachen und Missrathnen" gemünzten
Forderung macht: Sie haben dafür zu sorgen, dass das zum Untergang
Bestimmte auch wirklich den Untergang erleidet. Wie Schwäche und Missra-