Stellenkommentar AC 2, KSA 6, S. 170 37
tensein zu verstehen sind — ob biologistisch, stände- oder rassenpolitisch,
moralisch oder religiös — ist dem bisher Verlautbarten nicht zu entnehmen.
Aus dem Erkannten lässt sich lediglich folgern, dass „schwach" jene sind, die
das „Gefühl der Macht" oder die „Macht selbst" nicht bejahen. Innerhalb einer
Theorie, die Leben mit Willen zur Macht gleichsetzt, sprechen diese über sich
das Todesurteil: Was keinen Willen zur Macht hat, hätte demnach keinen Wil-
len zum Leben und „soll" also untergehen. Allerdings geht dies nicht als nüch-
terner Schluss aus Prämissen hervor, sondern ist eine unbedingte Forderung
jener praktischen Vernunft, die den Lebens- und Machtwilligen eigen sei.
Als besonders anrüchig empfindet das moralische Normalbewusstsein die
Inanspruchnahme von „Menschenliebe" für die Zwecke der neuen Machtethik.
Denn „Menschenliebe" kommt traditionell christlich den Wehrlosen und
Schwachen zugute. Auch im neuen Katechismus sind sie die Empfänger dieser
Empfindung, freilich in entgegengesetztem Sinn: War bislang ethisch das
Bestreben herrschend, sie kraft „Menschenliebe" wieder aufzurichten, sollen
sie jetzt, zwecks Realisierung des für sie Besten, eliminiert werden. Auch bei
den „Schwachen" gibt der umwertend-antichristliche Gesetzgeber vor, sehr
genau zu wissen, was für sie das Adäquate und Gute sei: nämlich gar nicht zu
sein.
Bemerkenswert ist, dass N. die Wendung „unsrer Menschenliebe" erst
spät aus der Wendung „der Gesellschaft" korrigiert hat (NL 1888, KSA 13,
11[414], 192 = KGW IX 7, W II 3, 3). In einer weiteren Vorstufe hatte es geheißen:
„Das was schwach und mißrathen ist soll zu Grunde gehn: oberster Imperativ
des Lebens. Und man soll keine Tugend aus dem Mitleiden machen." (NL 1888,
KSA 13, 15[120], 481, 7-9) Was ursprünglich ein Grundsatz des „Lebens" oder
der (neuen hyperboreischen) „Gesellschaft" hätte sein sollen, ist zu einem
Grundsatz „unsrer Menschenliebe" geworden — wohl nicht zuletzt, um der
Provokation der neuen Moral noch mehr Nachdruck zu verleihen. Die Aus-
tauschbarkeit der ,Begriffe' lässt die Rhetorizität des Bekenntnisparagraphen
AC 2 stark hervortreten: Auf den evokatorischen Effekt, nicht auf die dogmati-
sche Botschaft zielt er letztlich ab. Die Polemik gegen Menschenliebe gehört
übrigens zu den rhetorischen Kraftmeiereien im nationalkonservativen Lager,
so etwa in Heinrich von Treitschkes berüchtigtem Aufsatz Unsere Aussichten:
„Das erwachte Gewissen wendet sich vornehmlich gegen die weichliche Phil-
anthropie unseres Zeitalters" (Treitschke 1879b, 571, vgl. NK KSA 6, 358, 33-
359, 3).
170, 12 Menschenliebe] Von N. korrigiert aus „Gesellschaft" (KSA 14, 437).
170, 14-16 Was ist schädlicher als irgend ein Laster? — Das Mitleiden der That
mit allen Missrathnen und Schwachen — das Christenthum...] Als Laster, vitium,
tensein zu verstehen sind — ob biologistisch, stände- oder rassenpolitisch,
moralisch oder religiös — ist dem bisher Verlautbarten nicht zu entnehmen.
Aus dem Erkannten lässt sich lediglich folgern, dass „schwach" jene sind, die
das „Gefühl der Macht" oder die „Macht selbst" nicht bejahen. Innerhalb einer
Theorie, die Leben mit Willen zur Macht gleichsetzt, sprechen diese über sich
das Todesurteil: Was keinen Willen zur Macht hat, hätte demnach keinen Wil-
len zum Leben und „soll" also untergehen. Allerdings geht dies nicht als nüch-
terner Schluss aus Prämissen hervor, sondern ist eine unbedingte Forderung
jener praktischen Vernunft, die den Lebens- und Machtwilligen eigen sei.
Als besonders anrüchig empfindet das moralische Normalbewusstsein die
Inanspruchnahme von „Menschenliebe" für die Zwecke der neuen Machtethik.
Denn „Menschenliebe" kommt traditionell christlich den Wehrlosen und
Schwachen zugute. Auch im neuen Katechismus sind sie die Empfänger dieser
Empfindung, freilich in entgegengesetztem Sinn: War bislang ethisch das
Bestreben herrschend, sie kraft „Menschenliebe" wieder aufzurichten, sollen
sie jetzt, zwecks Realisierung des für sie Besten, eliminiert werden. Auch bei
den „Schwachen" gibt der umwertend-antichristliche Gesetzgeber vor, sehr
genau zu wissen, was für sie das Adäquate und Gute sei: nämlich gar nicht zu
sein.
Bemerkenswert ist, dass N. die Wendung „unsrer Menschenliebe" erst
spät aus der Wendung „der Gesellschaft" korrigiert hat (NL 1888, KSA 13,
11[414], 192 = KGW IX 7, W II 3, 3). In einer weiteren Vorstufe hatte es geheißen:
„Das was schwach und mißrathen ist soll zu Grunde gehn: oberster Imperativ
des Lebens. Und man soll keine Tugend aus dem Mitleiden machen." (NL 1888,
KSA 13, 15[120], 481, 7-9) Was ursprünglich ein Grundsatz des „Lebens" oder
der (neuen hyperboreischen) „Gesellschaft" hätte sein sollen, ist zu einem
Grundsatz „unsrer Menschenliebe" geworden — wohl nicht zuletzt, um der
Provokation der neuen Moral noch mehr Nachdruck zu verleihen. Die Aus-
tauschbarkeit der ,Begriffe' lässt die Rhetorizität des Bekenntnisparagraphen
AC 2 stark hervortreten: Auf den evokatorischen Effekt, nicht auf die dogmati-
sche Botschaft zielt er letztlich ab. Die Polemik gegen Menschenliebe gehört
übrigens zu den rhetorischen Kraftmeiereien im nationalkonservativen Lager,
so etwa in Heinrich von Treitschkes berüchtigtem Aufsatz Unsere Aussichten:
„Das erwachte Gewissen wendet sich vornehmlich gegen die weichliche Phil-
anthropie unseres Zeitalters" (Treitschke 1879b, 571, vgl. NK KSA 6, 358, 33-
359, 3).
170, 12 Menschenliebe] Von N. korrigiert aus „Gesellschaft" (KSA 14, 437).
170, 14-16 Was ist schädlicher als irgend ein Laster? — Das Mitleiden der That
mit allen Missrathnen und Schwachen — das Christenthum...] Als Laster, vitium,