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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0076
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Stellenkommentar AC 7, KSA 6, S. 172 53

er sich doch bereits 1861/62 dessen Wesen des Christenthums und Gedanken
über Tod und Unsterblichkeit auf einen Geburtstagswunschzettel gesetzt (NL
1861/62, KGW I 2, 11[24], 307) und aus diesem Werk, ohne es allerdings explizit
zu nennen, auch zitiert, nämlich in einem Brief an Gustav Krug und Wilhelm
Pinder vom 27. 04. 1862, wonach die Menschheit „in sich ,den Anfang, die
Mitte, das Ende der Religion'" erkenne (KSB 1, Nr. 301, S. 202, Z. 28 f., vgl.
Feuerbach 1903-1911, 6, 222).
In AC 7 erfahren die Leser mit Ausnahme des Einleitungssatzes 172, 28 f.
jedoch nicht, wie sich nun das Mitleid zum Christentum verhalte, das „man"
„die Religion des Mitleidens" nenne. AC 7 klärt nur ungenügend darüber
auf, ob „man" darin recht behält, auch wenn der Paragraph am Ende behaup-
tet, nichts sei „ungesunder" als gerade „das christliche Mitleid" (174, 13 f.). Die
Polemik richtet sich jedoch viel direkter gegen Schopenhauer und die moderne
decadence als gegen das traditionelle Christentum, das zwar dem Mitleid stets
einen prominenten Platz eingeräumt hatte, jedoch bloß als einem Bestandteil
der caritas. AC 7 scheint die christliche Liebe vollständig mit Mitleid identifizie-
ren zu wollen, vgl. auch die Vorarbeit zu AC in NL 1888, KSA 13, 11[361], 159
(KGW IX 7, W II 3, 35, 14-24). Parallel zu AC 7 formuliert N. eine scharfe Kritik
an Schopenhauers Mitleidsmoral in GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 37,
KSA 6, 138.
172, 29-31 Das Mitleiden steht im Gegensatz zu den tonischen Affekten, welche
die Energie des Lebensgefühls erhöhn: es wirkt depressiv.] Anders als N.s Asso-
ziation von tonischen Affekten und Lebensgefühlserhöhung hatte Fere 1888,
38 gerade die Depressionsträchtigkeit dieser Affekte festgestellt, dass nämlich
die „emotions les plus toniques sont les moins durables et suivies de depressi-
ons proportionnelles" („die tonischsten Gefühle sind die am wenigsten dauer-
haften und ihnen folgen entsprechende Depressionen"). Zur „tragischen Emo-
tion als Tonikum" ausführlich auch Port 2005, 281-366. In der ganzen
Argumentation gegen das „Mitleiden" herrscht ein medizinischer Jargon vor:
Aus dem „Reich der religiös-moralischen Idiosynkrasie" (173, 33) stammten
die höchsten Begriffe der Religion; „Mitleiden" sei „ansteckend" (173, 2), ein
„depressive[r] und contagiöse[r] Instinkt" (173, 25 f.), den schon Aristoteles als
„krankhaften und gefährlichen Zustand" (174, 5) erkannt habe. Deswegen
müsse man „Arzt", müsse man „unerbittlich sein" — „hier das Messer führen"
(174, 14 f.). N. will keineswegs Mitleidspraktiker eines Besseren belehren, son-
dern ihre Praxis als pathologisch diffamieren. Der objektivistische Anstrich
medizinischen Expertenwissens lässt jeden moralischen Einwand unsachge-
mäß erscheinen.
172, 30 welche die] In Mp XVI 4 ausführlicher: „welche, wie die Bravour oder
der Zorn, die" (KSA 14, 437).
 
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