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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0077
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54 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum

172, 30 Energie des Lebensgefühls] In einem terminologischen strengen Sinn
verwendet Höffding 1887, 283 das Wort „Lebensgefühl": „Der Gemeinemp-
findung eigentümlich ist der Mangel an bestimmter und lokaler Charakteris-
tik der einzelnen Empfindungen. Diese verschwinden in einem allgemeinen
Gefühl des Wohl- oder Unwohlseins, welches gleichsam das Resultat aus-
macht, zu welchem das Hirn durch die aus verschiednen Teilen des Organis-
mus erhaltnen Meldungen gelangt. Wir haben hier ein Gefühl von unsrer Exis-
tenz überhaupt, von dem allgemeinen Gang des Lebensprozesses; dieses mit
den Gemeinempfindungen verbundne Gefühl nennen wir deshalb das
Lebensgefühl." (Von „Unwohlsein" bis „unsrer" von N. am Rand angestri-
chen).
172, 31f. Durch das Mitleiden] In Mp XVI 4: „Dergestalt" (KSA 14, 437).
173, 1 br(ingt)] In Mp XVI 4: „zufügt" (KSA 14, 437).
173, 2 durch das Mitleiden ansteckend; unter] In Mp XVI 4: „vermöge des Mit-
leidens contagiös, nichts ist ansteckender als Mitleiden. Unter" (KSA 14, 437).
173, 1-5 Das Leiden selbst wird durch das Mitleiden ansteckend; unter Umstän-
den kann mit ihm eine Gesammt-Einbusse an Leben und Lebens-Energie erreicht
werden, die in einem absurden Verhältniss zum Quantum der Ursache steht] N.
nimmt hier einen Gedanken direkt auf, den er sich bereits in NL 1886/87,
KSA 12, 7[4], 268, 23-29 notiert hat: „Das Mitleid eine Verschwendung der
Gefühle, ein der moralischen Gesundheit schädlicher Parasit, ,es kann unmög-
lich Pflicht sein, die Übel in der Welt zu vermehren'. Wenn man bloß aus
Mitleid wohlthut, so thut man eigentlich sich selbst wohl und nicht dem Ande-
ren. M(itleid) beruht nicht auf Maximen, sondern auf Affekten; es ist patholo-
gisch; das fremde Leiden steckt uns an, Mitleid ist eine Ansteckung."
Bei dieser Passage handelt es sich freilich nicht um einen Originalgedan-
ken N.s, sondern um ein Exzerpt frei nach Kants Metaphysile der Sitten (Tugend-
lehre, C. Theilnehmende Empfindung ist überhaupt Pflicht, § 34, AA 6,
456 f.) — ohne dass N. Kants Schrift freilich selbst gelesen hätte. Die Herausge-
ber des Nachlasskompilats Der Wille zur Macht scheinen geglaubt zu haben,
hier habe N. eine besonders originelle Denkleistung vollbracht, so dass sie
KSA 12, 7[4], 268, 23-29 in einen eigenen Aphorismus transformierten (WzM2
368, GoA 15, 406). An dieser Originalität scheinen auch spätere Interpreten
noch festhalten zu wollen (vgl. z. B. Kim 1995, 108; Lickint 2000, 507; Leighton
2007, 100 f.). Tatsächlich aber bedient sich N. hier im Kant-Band von Kuno
Fischers Geschichte der neuern Philosophie (vgl. auch Brobjer 2001a, 421). Dort
heißt es, unter sehr freier Verwendung von Kants Vorlage: „Die praktische hilf-
reiche Teilnahme gilt Alles, das bloße Mitleid Nichts. Bei Schopenhauer ist das
 
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