Stellenkommentar AC 7, KSA 6, S. 173-174 59
gebraucht, wobei zunächst wohl nicht zufällig „Mitleiden" dominiert. Diese
Vokabel macht mit dem darin vollständig erhaltenen „Leiden" das Moment
der Schwächung des Mitleidenden unmittelbar augenfällig (vgl. 173, lf.). Eine
weitergehende Differenzierung — etwa dahingehend, im „Mitleid" das Abstrak-
tum innerhalb eines Begriffssystems, im „Mitleiden" das konkret realisierte
Tun zu sehen — wird vom Textbefund nicht gedeckt. Die etymologisch jüngere
Form „Mitleid" unterscheidet sich semantisch nach Grimm 1854-1971, 6, 2356
nicht von der substantivierten Verbform „Mitleiden" und kommt im letzten
Drittel des 18. Jahrhunderts auf. Für „Mitleiden" werden ebd., 2357-2359 noch
drei Bedeutungsfelder genannt: 1. „gemeinsames leiden", 2. „theilnahme am
Schmerzgefühl anderer" (so schon im Mittelhochdeutschen), und 3. „theil-
nahme an den lasten eines gemeinwesens".
174, 4-7 Aristoteles sah, wie man weiss, im Mitleiden einen krankhaften und
gefährlichen Zustand, dem man gut thäte, hier und da durch ein Purgativ beizu-
kommen: er verstand die Tragödie als Purgativ.] Vgl. Aristoteles: Poetik 1453b
lff. u. 1449b 27-30, wo der Tragödie die Fähigkeit zugeschrieben wird, „mit
Hilfe von Mitleid und Furcht eine Reinigung von ebenderartigen Affekten" zu
bewerkstelligen. Bei Aristoteles wirkt das Schauspiel kathartisch. Dies interpre-
tiert N. medizinisch und scheint sich eine ähnliche Bewältigung der nihilis-
musverdächtigen Mitleidsaffekte zu wünschen: „Vom Instinkte des Lebens aus
müsste man in der That nach einem Mittel suchen, einer [...] krankhaften [...]
Häufung des Mitleides [...] einen Stich zu versetzen: damit sie platzt..." (174,
7-13; es liegt eine Katachrese vor, da eine „Häufung" nicht „platzen" kann).
Allerdings wird in AC 7 kein ästhetischer Ersatz geboten, kein Ort genannt,
an dem die Mitleidsaffekte sich schadlos abreagieren können: Das „müsste" in
174, 7 drückt einen Optativ aus, der zum Irrealis tendiert. Die „Hyperboreer"
wollen am Ende, als Ärzte, das Mitleid eher amputieren als in schönen Schein
verwandeln (vgl. aber auch GD Was ich den Alten verdanke 5, KSA 6, 160).
174, 6 hier und da] In Mp XVI 4: „von Zeit zu Zeit" (KSA 14, 437).
174, 9 sie] So Mp XVI 4; im Druckmanuskript „ihn" (KSA 14, 437).
174, 10-12 und leider auch unsrer gesammten litterarischen und artistischen
decadence von St. Petersburg bis Paris, von Tolstoi bis Wagner] Vgl. NK KSA 6,
22, 1-4.
174, 12 Tolstoi] N. las insbesondere Tolstois Ma religion — vgl. die Exzerpte in
Heft W II 3.
174, 14-16 Hier Arzt sein, hier unerbittlich sein, hier das Messer führen —
das gehört zu uns, das ist unsre Art Menschenliebe] Für N.s Umkehrung reli-
giöser Schemata ist es bezeichnend, dass er mit der Arzt- und Krankheitstopik
gebraucht, wobei zunächst wohl nicht zufällig „Mitleiden" dominiert. Diese
Vokabel macht mit dem darin vollständig erhaltenen „Leiden" das Moment
der Schwächung des Mitleidenden unmittelbar augenfällig (vgl. 173, lf.). Eine
weitergehende Differenzierung — etwa dahingehend, im „Mitleid" das Abstrak-
tum innerhalb eines Begriffssystems, im „Mitleiden" das konkret realisierte
Tun zu sehen — wird vom Textbefund nicht gedeckt. Die etymologisch jüngere
Form „Mitleid" unterscheidet sich semantisch nach Grimm 1854-1971, 6, 2356
nicht von der substantivierten Verbform „Mitleiden" und kommt im letzten
Drittel des 18. Jahrhunderts auf. Für „Mitleiden" werden ebd., 2357-2359 noch
drei Bedeutungsfelder genannt: 1. „gemeinsames leiden", 2. „theilnahme am
Schmerzgefühl anderer" (so schon im Mittelhochdeutschen), und 3. „theil-
nahme an den lasten eines gemeinwesens".
174, 4-7 Aristoteles sah, wie man weiss, im Mitleiden einen krankhaften und
gefährlichen Zustand, dem man gut thäte, hier und da durch ein Purgativ beizu-
kommen: er verstand die Tragödie als Purgativ.] Vgl. Aristoteles: Poetik 1453b
lff. u. 1449b 27-30, wo der Tragödie die Fähigkeit zugeschrieben wird, „mit
Hilfe von Mitleid und Furcht eine Reinigung von ebenderartigen Affekten" zu
bewerkstelligen. Bei Aristoteles wirkt das Schauspiel kathartisch. Dies interpre-
tiert N. medizinisch und scheint sich eine ähnliche Bewältigung der nihilis-
musverdächtigen Mitleidsaffekte zu wünschen: „Vom Instinkte des Lebens aus
müsste man in der That nach einem Mittel suchen, einer [...] krankhaften [...]
Häufung des Mitleides [...] einen Stich zu versetzen: damit sie platzt..." (174,
7-13; es liegt eine Katachrese vor, da eine „Häufung" nicht „platzen" kann).
Allerdings wird in AC 7 kein ästhetischer Ersatz geboten, kein Ort genannt,
an dem die Mitleidsaffekte sich schadlos abreagieren können: Das „müsste" in
174, 7 drückt einen Optativ aus, der zum Irrealis tendiert. Die „Hyperboreer"
wollen am Ende, als Ärzte, das Mitleid eher amputieren als in schönen Schein
verwandeln (vgl. aber auch GD Was ich den Alten verdanke 5, KSA 6, 160).
174, 6 hier und da] In Mp XVI 4: „von Zeit zu Zeit" (KSA 14, 437).
174, 9 sie] So Mp XVI 4; im Druckmanuskript „ihn" (KSA 14, 437).
174, 10-12 und leider auch unsrer gesammten litterarischen und artistischen
decadence von St. Petersburg bis Paris, von Tolstoi bis Wagner] Vgl. NK KSA 6,
22, 1-4.
174, 12 Tolstoi] N. las insbesondere Tolstois Ma religion — vgl. die Exzerpte in
Heft W II 3.
174, 14-16 Hier Arzt sein, hier unerbittlich sein, hier das Messer führen —
das gehört zu uns, das ist unsre Art Menschenliebe] Für N.s Umkehrung reli-
giöser Schemata ist es bezeichnend, dass er mit der Arzt- und Krankheitstopik