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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0085
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62 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum

diesseitige Anstrengungen wie „Wissenschaft" und diesseitige Werte wie „Ver-
stand" und „Wohlleben" zu erheben pflegte. Die Hybris — in spätantiker und
mittelalterlicher Pönitenztheologie als superbia unter dem Titel einer Todsünde
gebannt — wird nun jenen zugeschrieben, die nach monastischer Tradition
„Demuth, Keuschheit, Armut" (175, 6) predigten. Die Umwertung der Werte ist
im gegebenen Falle eine Umkehrung.
174, 24-27 ( — die Freigeisterei unsrer Herrn Naturforscher und Physiologen ist
in meinen Augen ein Spaass, — ihnen fehlt die Leidenschaft in diesen Dingen,
das Leiden an ihnen — )] Dieses „Leiden", diese sehr persönliche Betroffen-
heit vom Schicksal der Philosophie ist es, was die „Wir" zu ihrer Unbarmher-
zigkeit motiviert. Leiden ist positiv konnotiert, vgl. Kaempfert 1971, 188-195.
Zur zeitgenössischen Freigeisterei, von der N. sich unterscheiden will, siehe
NK KSA 6, 319, 6-17.
174, 27-31 Jene Vergiftung reicht viel weiter als man denkt: ich fand den Theolo-
gen-lnstinkt des Hochmuths überall wieder, wo man sich heute als „Idealist"
fühlt, — wo man, vermöge einer höheren Abkunft, ein Recht in Anspruch nimmt,
zur Wirklichkeit überlegen und fremd zu blicken...] In W II 7, 13 heißt es stattdes-
sen nur: „Ich rede aus Erfahrung" (KSA 14, 438). Vgl. zur Gleichsetzung von
Idealismus und Religion Roberty 1887, 258: „La religion a toujours ete et sera
toujours un idealisme plus ou moins rudimentaire et imparfait, de meme que
l'idealisme a toujours ete et sera toujours une forme plus ou moins inconse-
quente de la theologie." („Die Religion war schon immer ein mehr oder weniger
rudimentärer Idealismus und wird dies immer bleiben; genau so wie der Idea-
lismus immer eine mehr oder weniger inkonsequente Form der Theologie war
und dies immer bleiben wird.") Zur Idealismus-Kritik u. a. NK KSA 6, 300, 11-
25.
174, 30 Abkunft] Danach im Druckmanuskript gestrichen: „und Art" (KSA 14,
438).
174, 31-175, 3 Der Idealist hat, ganz wie der Priester, alle grossen Begriffe in
der Hand ( — und nicht nur in der Hand!), er spielt sie mit einer wohlwollenden
Verachtung gegen den „Verstand", die „Sinne", die „Ehren", das „Wohlleben",
die „ Wissenschaft" aus] „Priester" sind in N.s Spätwerk keineswegs nur geistli-
che Amtsträger — es gibt „Priester beiderlei Geschlechts" (AC 52, KSA 6, 233,
10) — , sondern die Verkörperungen weltverneinender Moral, deren eigentli-
cher „religionsgeschichtlicher Ort gleichgültig wird" (Trillhaas 1983, 42). Das
Feindbild des „Priesters" ist ein Topos besonders der (französischen) Aufklä-
rung, die nicht müde wurde, den „verhängnisvollen" Einfluss einer herrsch-
süchtigen Priesterschaft anzuprangern. N. kritisiert nicht nur die Machtusurpa-
 
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