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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0095
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72 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum

nur vor. Der Wahrheitswille, der hier gegen die christliche und philosophische
Lüge aufgeboten wird, ist auf Selbstinquisition und -applikation kaum mehr
bedacht. „Rechtschaffenheit" hat ohnehin andere Konnotationen als „Redlich-
keit". Bei ihr steht die probitas, umfassende sittliche Qualität, die „ganze
Rechtschaffenheit der Erkenntniss" Pate, die in der vorchristlichen
Antike „bereits da" gewesen sei (AC 59, KSA 6, 248, ll f.). In „Rechtschaffen-
heit" drückt sich eher eine gegebene Eigenschaft als eine erworbene Tugend
aus. Die Verbindung von „Rechtschaffenheit" mit „Takt" (177, 5; ähnlich in GD
Streifzüge eines Unzeitgemässen 16, KSA 6, 121 f.), lässt vermuten, sie sei an
Vorgegebenes, an bestimmte Rhythmen, an Wahrheiten gebunden: Sie wäre,
im Unterschied zur Redlichkeit in der Genealogie der Moral, nicht ein Letztes,
das selbst noch den Wahrheitswillen problematisiert. In AC 12, KSA 6, 178, 15
kommt auch die Wendung „intellektuelle Rechtschaffenheit" explizit vor, die
später Max Weber in seinem Vortrag Wissenschaft als Beruf aufnimmt (Weber
1988, 601).

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177, 7 Ein Wort noch gegen Kant als Moralist.] Diese Abgrenzung von Kants
praktischer Philosophie scheint auch deswegen besonders notwendig, weil N.
in AC 7 — ohne das freilich explizit zu machen — weitgehend von Kants Kritik
an der Mitleidsmoral zehrt. N. versucht damit die Gefahr der Verwechslung
auszuräumen, die er so sehr fürchtet (vgl. EH Vorwort 1, KSA 6, 257, 17 f.). Zur
Adaption von Kants Mitleidskritik siehe NK 173, 1-5. Wenn es sich, wie Striet
1998, 132 argumentiert, bei N.s Spätphilosophie um „eine Radikalisierung der
Kantischen Vernunftkritik" handeln sollte, wird das Abgrenzungsbedürfnis bei
N. besonders ausgeprägt gewesen sein.
In der zeitgenössischen Rezeption wurde gerne auf die protestantischen
Wurzeln von Kants Ethik hingewiesen, jedoch vornehmlich in affirmativem
Sinne (vgl. Treitschke 1879a, 78 f., zitiert und kommentiert in NK KSA 6, 358,
29-33). N. teilt diese Einschätzung, aber bewertet den Sachverhalt negativ. Zum
Begriff des „Moralisten" siehe NK KSA 6, 11, 10-13.
177, 14-16 Hirngespinnste, in denen sich der Niedergang, die letzte Entkräftung
des Lebens, das Königsberger Chinesenthum ausdrückt] Vgl. NK KSA 6, 369, 9 f.
Der Ausdruck „Königsberger Chinesenthum" dient als Metapher für die Nivel-
lierung und Demokratisierung in Moral und Politik, die durch Kant zum Tragen
kamen. In FW 377, KSA 3, 629 wird der Ausdruck „Chineserei" synonym ver-
wendet zum „Reich der tiefsten Vermittelmässigung", wodurch sich die Über-
 
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