128 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum
191, 27-32 Die Juden sind das merkwürdigste Volk der Weltgeschichte, weil sie,
vor die Frage von Sein und Nichtsein gestellt, mit einer vollkommen unheimlichen
Bewusstheit das Sein um jeden Preis vorgezogen haben: dieser Preis war die
radikale Fälschung aller Natur, aller Natürlichkeit, aller Realität, der ganzen
inneren Welt so gut als der äusseren.] In GM I 7, KSA 5, 268, 2 war es noch
der Machtwille der Priester, der zum „Sklavenaufstand in der Moral"
geführt hat, in AC 24 sind es demgegenüber die Selbsterhaltungsinteressen
eines ganzes Volkes, die die Fälschung vorantreiben (vgl. auch Duffy / Mittel-
man 1988, 315). AC beschreibt nicht etwa werturteilsfrei die Prozesse, die im
Judentum zur Erfindung einer moralischen Hinterwelt geführt haben, sondern
ergreift Partei für das durch die moralische Weltinterpretation diffamierte
Leben — „die aufsteigende Bewegung des Lebens, die Wohlgerathenheit,
die Macht, die Schönheit, die Selbstbejahung" (192, 20-21).
Der Topos vom „Sein um jeden Preis" (191, 29 f.), auf das es dem
jüdischen Volk ankomme, ist, wie Ahlsdorf 1990, 127-158 herausstreicht, bei
Antisemiten wie Theodor Fritsch (vgl. z. B. Ferrari Zumbini 1993, 137-140 und
Niemeyer 2011a, 56-64) ebenso verbreitet wie in seriöser religionswissenschaft-
licher Literatur (vgl. z. B. Müller 1869, 1, 55; Lüdemann 1872, 37 f.). Wellhausen
1884, 57 hatte darauf hingewiesen, dass die Judäer „ihren Glauben im babylo-
nischen Exil festhielten und sich selber dadurch unter allen Umständen
behaupteten. Es lag an den Propheten, wenn der Untergang Samariens die
Religion Jahve's nicht schädigte, sondern befestigte." N. hat diese Passage am
Rand dreifach angestrichen. Vgl. auch ebd., 87 (Kursiviertes von N. unterstri-
chen): „Denn der Schwerpunkt des Judentums lag im Individuum. Aus zerstreu-
ten Elementen war es gesammelt, es beruhte auf der Arbeit des Einzelnen, sich
selbst zum Juden zu machen, das ist das Geheimnis seiner Selbstbehauptung
auch in der Diaspora."
191, 29 Bewusstheit] Während hier der Ausdruck „Bewusstheit" als Synonym
von „Innesein" oder „Wissen" benutzt wird, wird er in FW 11 (und 357) durch-
aus in Gegensatz zum scheinbar so festgefügten Sein des Bewusstseins gesetzt,
das eben kein Sein ist. Der Ausdruck kommt schon in N.s Frühwerk vor (z. B.
GT 7 u. 14) und wird zu N.s Zeit in erkenntnisphilosophischem Kontext
gebraucht (so von Liebmann 1880, 213), ist also kein Neologismus N.s.
192, 6 Natur-Werthen] Vom „Naturwerth des Egoismus" in GD
Streifzüge eines Unzeitgemässen 33, KSA 6, 131, 27 abgesehen, kommen „Natur-
Werthe" in N.s Werken nur in AC vor, nämlich in AC 25, KSA 6, 193, 11 und AC
38, KSA 6, 210, 24, im Singular schließlich noch in AC 27, KSA 6, 197, 13. Diese
Häufung zeigt an, wie stark die Naturalisierung von Moral hilfreich ist, um
eine antichristliche Position zu beziehen. Dass das späte Judentum in Wider-
191, 27-32 Die Juden sind das merkwürdigste Volk der Weltgeschichte, weil sie,
vor die Frage von Sein und Nichtsein gestellt, mit einer vollkommen unheimlichen
Bewusstheit das Sein um jeden Preis vorgezogen haben: dieser Preis war die
radikale Fälschung aller Natur, aller Natürlichkeit, aller Realität, der ganzen
inneren Welt so gut als der äusseren.] In GM I 7, KSA 5, 268, 2 war es noch
der Machtwille der Priester, der zum „Sklavenaufstand in der Moral"
geführt hat, in AC 24 sind es demgegenüber die Selbsterhaltungsinteressen
eines ganzes Volkes, die die Fälschung vorantreiben (vgl. auch Duffy / Mittel-
man 1988, 315). AC beschreibt nicht etwa werturteilsfrei die Prozesse, die im
Judentum zur Erfindung einer moralischen Hinterwelt geführt haben, sondern
ergreift Partei für das durch die moralische Weltinterpretation diffamierte
Leben — „die aufsteigende Bewegung des Lebens, die Wohlgerathenheit,
die Macht, die Schönheit, die Selbstbejahung" (192, 20-21).
Der Topos vom „Sein um jeden Preis" (191, 29 f.), auf das es dem
jüdischen Volk ankomme, ist, wie Ahlsdorf 1990, 127-158 herausstreicht, bei
Antisemiten wie Theodor Fritsch (vgl. z. B. Ferrari Zumbini 1993, 137-140 und
Niemeyer 2011a, 56-64) ebenso verbreitet wie in seriöser religionswissenschaft-
licher Literatur (vgl. z. B. Müller 1869, 1, 55; Lüdemann 1872, 37 f.). Wellhausen
1884, 57 hatte darauf hingewiesen, dass die Judäer „ihren Glauben im babylo-
nischen Exil festhielten und sich selber dadurch unter allen Umständen
behaupteten. Es lag an den Propheten, wenn der Untergang Samariens die
Religion Jahve's nicht schädigte, sondern befestigte." N. hat diese Passage am
Rand dreifach angestrichen. Vgl. auch ebd., 87 (Kursiviertes von N. unterstri-
chen): „Denn der Schwerpunkt des Judentums lag im Individuum. Aus zerstreu-
ten Elementen war es gesammelt, es beruhte auf der Arbeit des Einzelnen, sich
selbst zum Juden zu machen, das ist das Geheimnis seiner Selbstbehauptung
auch in der Diaspora."
191, 29 Bewusstheit] Während hier der Ausdruck „Bewusstheit" als Synonym
von „Innesein" oder „Wissen" benutzt wird, wird er in FW 11 (und 357) durch-
aus in Gegensatz zum scheinbar so festgefügten Sein des Bewusstseins gesetzt,
das eben kein Sein ist. Der Ausdruck kommt schon in N.s Frühwerk vor (z. B.
GT 7 u. 14) und wird zu N.s Zeit in erkenntnisphilosophischem Kontext
gebraucht (so von Liebmann 1880, 213), ist also kein Neologismus N.s.
192, 6 Natur-Werthen] Vom „Naturwerth des Egoismus" in GD
Streifzüge eines Unzeitgemässen 33, KSA 6, 131, 27 abgesehen, kommen „Natur-
Werthe" in N.s Werken nur in AC vor, nämlich in AC 25, KSA 6, 193, 11 und AC
38, KSA 6, 210, 24, im Singular schließlich noch in AC 27, KSA 6, 197, 13. Diese
Häufung zeigt an, wie stark die Naturalisierung von Moral hilfreich ist, um
eine antichristliche Position zu beziehen. Dass das späte Judentum in Wider-