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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0330
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Stellenkommentar AC 61, KSA 6, S. 251 307

der letzte Römerbau!" 602, 29 f.) und nicht die Renaissance gibt in der Vorlage
zu den Erörterungen in AC und EH und Ecce homo das Gegenstück zur Refor-
mation ab.
Man könnte für N.s Spät(est)zeit von einer mit der damaligen Zeitmode
konformen Wiederentdeckung der Renaissance sprechen — einer Renaissance,
die wiederentdeckt werden muss, weil sich die mittelalterliche Kirche aus sys-
tematischen Gründen als Gegenstück verbietet (vgl. aber NL 1885, KSA 11, 43[3],
703, 13 f., wo von Luthers „Bauernkrieg des Geistes gegen die ,höheren Men-
schen' der Renaissance" die Rede ist). Der Reformation ist in FW 358 „Viel zu
verzeihen" (603, 13); überhaupt findet die ganze Auseinandersetzung dort noch
nicht auf dem Streckbett unversöhnlicher Polaritäten statt. Sie geht aus von
einer Zeitdiagnose, die AC in dieser Gelassenheit nicht teilt: „wir sehen die
religiöse Gesellschaft des Christenthums bis in die untersten Fundamente
erschüttert, — der Glaube an Gott ist umgestürzt, der Glaube an das christlich-
asketische Ideal kämpft eben noch seinen letzten Kampf" (602, 25-28). Wäre
dem noch zu Zeiten von AC so, erübrigte sich alle gehässige Polemik, alle
Denunziation der christlichen Werte. Dann könnte man das Christentum ganz
einfach in seiner Ecke verenden lassen und diesem Verenden allenfalls mit
der unbeteiligten Aufmerksamkeit des Kulturanthropologen zuschauen. In AC
liegen die Karten anders: Da ist die moderne Welt von christlichen Werten
verseucht — Werten, die einzig ein antichristlicher Befreiungsschlag wieder
aus der Welt schaffen kann. Einmal mehr zeigt sich, dass man N. nicht so
leicht auf eine in sich stimmige Haltung festlegen kann. Es ist keineswegs
evident, dass N. als Person, als Philosoph oder als Autor jener Renaissancist
war, als den ihn AC oder EH auszuweisen scheinen. Man kann nicht einmal
von Entwicklung sprechen — etwa davon, dass N. zunächst (im Anschluss an
Janssen) Luthers Reformation in Opposition zum Mittelalter gesehen habe, um
dann, etwa von Burckhardt eines Besseren belehrt, die wahren Gegner Luthers
in der un- und antichristlichen Renaissance auszuspähen.
Bereits in MA I 237, KSA 2, 199, 17-34 hatte nämlich die Renaissance als
polares Gegenstück der Reformation herhalten müssen, letztere „als ein energi-
scher Protest zurückgebliebener Geister, welche die Weltanschauung des Mit-
telalters noch keinesweg satt hatten und die Zeichen seiner Auflösung, die
ausserordentliche Verflachung und Veräusserlichung des religiösen Lebens,
anstatt mit Frohlocken, wie sich gebührt, mit tiefem Unmuthe empfanden. Sie
warfen mit ihrer nordischen Kraft und Halsstarrigkeit die Menschen wieder
zurück, erzwangen die Gegenreformation, das heisst ein katholisches Christen-
thum der Nothwehr, mit den Gewaltsamkeiten eines Belagerungszustandes
und verzögerten um zwei bis drei Jahrhunderte ebenso das völlige Erwachen
und Herrschen der Wissenschaften, als sie das völlige In-Eins-Verwachsen des
 
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