Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0331
License: In Copyright

DWork-Logo
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
308 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum

antiken und des modernen Geistes vielleicht für immer unmöglich machten.
Die grosse Aufgabe der Renaissance konnte nicht zu Ende gebracht werden,
der Protest des inzwischen zurückgebliebenen deutschen Wesens ([...]) verhin-
derte diess." Dieser Text, wesentlich älter als FW 358, versammelt bereits die
Hauptgesichtspunkte, unter denen das Thema in AC 61 abgehandelt wird. Wie-
derum sind es die tumben Deutschen, die der Geistigkeit der italienischen
Renaissance nicht gewachsen sind und deswegen aus ihren mittelalterlichen
Instinkten heraus den Aufstand anzetteln, um damit auf Jahrhunderte hinaus
die Wissenschaft und den freien Geist niederzuhalten. Hier haben wir übrigens
ganz das Burckhardtsche Schema vor uns, das in der auf die Reformation rea-
gierenden Gegenreformation die direkte Ursache für das (vorläufige) Scheitern
des Renaissance-Projektes sieht. „Die grosse Aufgabe der Renaissance" habe,
so der zitierte Aphorismus, nicht gelöst werden können. Die Heraufkunft der
Wissenschaften und des freien Geistes sei durch die Reformation und ihre Fol-
gen zwar verzögert, nicht aber verhindert worden. Es herrscht in MA I ein
milderer Ton — die Wehmut des Bedauerns, aber nicht der Zorn des Rächers.
All das, was N. seit den späten siebziger Jahren über Mittelalter, Reformation,
Luther und Renaissance äußert, hängt in der jeweiligen Wertung von den Kon-
texten ab, in dem die betreffenden Äußerungen stehen. Zwar wird die Renais-
sance einhellig positiv beurteilt, jedoch nur dann, wenn sie überhaupt als Ver-
gleichsgröße der Reformation auftaucht. Ja, es gibt Notizen im Nachlass von
1888, wo die Renaissance an sich selbst zugrunde geht, wo sie „beweist",
dass „das Reich des Individuums' nur kurz sein kann. Die Verschwendung ist
zu groß; es fehlt die Möglichkeit selbst, zu sammeln, zu capitalisiren." (NL
1888, KSA 13, 15[23], 419) Dort ist die Reformation auch nicht die Antithese
der Renaissance Italiens, sondern „ein wüstes und pöbelhaftes Gegenstück",
„verwandten Antrieben entsprungen" (ebd.). Zu N. und Luther siehe auch
Hirsch 1986, Beutel 2005 und Large 2009b, 52-71.
251, 21 peccatum originale] Lateinisch für „Erbsünde".
251, 22 Stuhl des Papstes!] In W II 8, 115 heißt es stattdessen: „Stuhl Petri"
(KSA 14, 448).
251, 27-252, 8 Ah diese Deutschen, was sie uns schon gekostet haben!
Umsonst — das war immer das Werk der Deutschen. — Die Reformation; Leib-
niz; Kant und die sogenannte deutsche Philosophie; die Freiheits-Kriege; das
Reich — jedes Mal ein Umsonst für Etwas, das bereits da war, für etwas Unwie-
derbringliches... Es sind meine Feinde, ich bekenne es, diese Deutschen:
ich verachte in ihnen jede Art von Begriffs- und Werth-Unsauberkeit, von Feig-
heit vor jedem rechtschaffnen Ja und Nein. Sie haben, seit einem Jahrtausend
beinahe, Alles verfilzt und verwirrt, woran sie mit ihren Fingern rührten, sie
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften