312 Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum
haupt ist die ,Humanität' eine fast ausschliessliche Errungenschaft der christli-
chen Epochen." Diese Humanität besteht bei Hellwald in der Entwicklung
einer Moral, die N. zum erklärten Feind des Christentums machte: „Unläugbar
entwickelte es die servilen Tugenden, Demuth und Gehorsam, die im Alter-
thume wenig Achtung genossen" (ebd.).
252, 19-22 Irgend einen Nothstand abschaffen gieng wider ihre tiefste Nütz-
lichkeit, — sie lebte von Nothständen, sie schuf Nothstände, um sich zu ver-
ewigen...] Als Gegenargument zu den „,humanitären' Segnungen" (252, 19)
bedeutet dies, dass die Kirche nichts unternommen hat, die realen Übel der
Welt wirklich zu verringern. Mit dieser Argumentation kehrt AC 62 die christli-
che Schutzbehauptung um, das Christentum allein sei in der Lage, die durch
den Sündenfall, durch die menschliche Natur oder durch das menschliche Ver-
halten verursachten „Nothstände" wo nicht zu beheben, so doch mindestens
zu lindern. Die dem traditionell-kirchlichen Anspruch zu Grunde liegende
Anthropologie steht der antichristlichen polar entgegen: Während die Kirche,
von einer grundsätzlichen Bedürftigkeit und Mangelnatur des Menschen aus-
geht, postuliert die antichristliche Anthropologie gerade einen Menschen der
Stärke. Dieser Mensch befindet sich nicht „von Natur" aus in „Nothständen".
Vgl. NK KSA 6, 368, 16-22.
252, 22 f. Der Wurm der Sünde zum Beispiel: mit diesem Nothstande hat erst
die Kirche die Menschheit bereichert!] Vgl. zu parallelen Überlegungen bei
Burckhardt 1880 NK 245, 34-246, 5. Siehe auch Heines Äußerung in der Roman-
tischen Schule (1835): „ich spreche von jener Religion, durch deren unnatürli-
che Aufgabe ganz eigentlich die Sünde und die Hypokrisie in die Welt gekom-
men, indem eben, durch die Verdammniss des Fleisches, die unschuldigsten
Sinnenfreuden eine Sünde geworden, und durch die Unmöglichkeit ganz Geist
zu sein die Hypokrisie sich ausbilden musste" (Heine 1869, 141).
252, 24-253, 1 Die „Gleichheit der Seelen vor Gott", diese Falschheit, dieser
Vorwand für die rancunes aller Niedriggesinnten, dieser Sprengstoff von
Begriff, der endlich Revolution, moderne Idee und Niedergangs-Princip der gan-
zen Gesellschafts-Ordnung geworden ist — ist christlicher Dynamit... „Huma-
nitäre" Segnungen des Christenthums! Aus der humanitas einen Selbst-Wider-
spruch, eine Kunst der Selbstschändung, einen Willen zur Lüge um jeden Preis,
einen Widerwillen, eine Verachtung aller guten und rechtschaffnen Instinkte
herauszuzüchten! — Das wären mir Segnungen des Christenthums!] In der Kurz-
fassung dieses bereits breit abgehandelten Themas (vgl. AC 43, 46 und 57) wird
die Verfallslinie von christlichem Seelen-Egalitarismus bis hin zu „Revolution"
und „modernen Ideen" noch einmal ausgezogen. Dabei werden die nicht ganz
unwesentlichen Binnendifferenzen zwischen demokratischem Egalitarismus
haupt ist die ,Humanität' eine fast ausschliessliche Errungenschaft der christli-
chen Epochen." Diese Humanität besteht bei Hellwald in der Entwicklung
einer Moral, die N. zum erklärten Feind des Christentums machte: „Unläugbar
entwickelte es die servilen Tugenden, Demuth und Gehorsam, die im Alter-
thume wenig Achtung genossen" (ebd.).
252, 19-22 Irgend einen Nothstand abschaffen gieng wider ihre tiefste Nütz-
lichkeit, — sie lebte von Nothständen, sie schuf Nothstände, um sich zu ver-
ewigen...] Als Gegenargument zu den „,humanitären' Segnungen" (252, 19)
bedeutet dies, dass die Kirche nichts unternommen hat, die realen Übel der
Welt wirklich zu verringern. Mit dieser Argumentation kehrt AC 62 die christli-
che Schutzbehauptung um, das Christentum allein sei in der Lage, die durch
den Sündenfall, durch die menschliche Natur oder durch das menschliche Ver-
halten verursachten „Nothstände" wo nicht zu beheben, so doch mindestens
zu lindern. Die dem traditionell-kirchlichen Anspruch zu Grunde liegende
Anthropologie steht der antichristlichen polar entgegen: Während die Kirche,
von einer grundsätzlichen Bedürftigkeit und Mangelnatur des Menschen aus-
geht, postuliert die antichristliche Anthropologie gerade einen Menschen der
Stärke. Dieser Mensch befindet sich nicht „von Natur" aus in „Nothständen".
Vgl. NK KSA 6, 368, 16-22.
252, 22 f. Der Wurm der Sünde zum Beispiel: mit diesem Nothstande hat erst
die Kirche die Menschheit bereichert!] Vgl. zu parallelen Überlegungen bei
Burckhardt 1880 NK 245, 34-246, 5. Siehe auch Heines Äußerung in der Roman-
tischen Schule (1835): „ich spreche von jener Religion, durch deren unnatürli-
che Aufgabe ganz eigentlich die Sünde und die Hypokrisie in die Welt gekom-
men, indem eben, durch die Verdammniss des Fleisches, die unschuldigsten
Sinnenfreuden eine Sünde geworden, und durch die Unmöglichkeit ganz Geist
zu sein die Hypokrisie sich ausbilden musste" (Heine 1869, 141).
252, 24-253, 1 Die „Gleichheit der Seelen vor Gott", diese Falschheit, dieser
Vorwand für die rancunes aller Niedriggesinnten, dieser Sprengstoff von
Begriff, der endlich Revolution, moderne Idee und Niedergangs-Princip der gan-
zen Gesellschafts-Ordnung geworden ist — ist christlicher Dynamit... „Huma-
nitäre" Segnungen des Christenthums! Aus der humanitas einen Selbst-Wider-
spruch, eine Kunst der Selbstschändung, einen Willen zur Lüge um jeden Preis,
einen Widerwillen, eine Verachtung aller guten und rechtschaffnen Instinkte
herauszuzüchten! — Das wären mir Segnungen des Christenthums!] In der Kurz-
fassung dieses bereits breit abgehandelten Themas (vgl. AC 43, 46 und 57) wird
die Verfallslinie von christlichem Seelen-Egalitarismus bis hin zu „Revolution"
und „modernen Ideen" noch einmal ausgezogen. Dabei werden die nicht ganz
unwesentlichen Binnendifferenzen zwischen demokratischem Egalitarismus