Überblickskommentar 345
5 Stellenwert von Ecce homo in N.s Schaffen
Im Korpus von N.s Büchern hat EH eine einzigartige Stellung. Zum ersten und
einzigen Mal gießt N. in die Form eines Buches, was in Nachlassaufzeichnun-
gen sowie in den Paratexten anderer Bücher oft schon deutlich wurde, nämlich
die Selbstthematisierung als singuläres Denker-Individuum. Autogenealogi-
sche Überlegungen sind in N.s Werken zwar häufig virulent, werden aber erst
und nur in EH in die Form eines eigenständigen Werkes gebracht. Freilich dient
das genealogische Verfahren gerade nicht wie in der Genealogie der Moral der
Delegitimation — dort einiger zentraler Wertvorstellungen des (christlichen)
Abendlandes —, sondern im Gegenteil gerade der Legitimation, der Selbstlegi-
timation als Umwerter aller Werte. Versteht man EH, wie N. das Werk verstan-
den wissen will, als Vorbereitung auf die „Umwerthung aller Werthe", die er
von November 1888 an im Antichrist für literarisch realisiert hielt, erkennt man
unschwer den völlig entgegengesetzten Gebrauch, den N. von genealogischen
Verfahrensweisen macht: Dient im Antichrist das Herabsteigen in die Vor-,
Früh- und Hauptgeschichte des Christentums dazu, es als verwerflich zu ent-
larven, hat die gleiche Verfahrensweise, nämlich die Vor-, Früh- und Hauptge-
schichte des umwertenden Ichs ans Licht zu stellen, den gegenteiligen Effekt:
den der Rechtfertigung. EH zeigt also, dass das genealogische Verfahren kei-
neswegs nur negativ als Strategie der Entlarvung funktioniert, sondern ebenso
positiv als Strategie der Beglaubigung, der Überhöhung.
Die Bedeutung von EH liegt weniger darin, dass der Leser bestimmte Infor-
mationen zu N.s Leben, Werk- und Denkgenese erhält — all diese Informatio-
nen sind, wollte man sie als historische Tatsachen nehmen, mit großer Vorsicht
zu genießen. Die Bedeutung liegt vielmehr in der Neuartigkeit einer positiven
Genealogie. Das umwertende Ich, das sich bislang an so vielen Dingen kritisch-
genealogisch abgearbeitet hat, findet in EH den letztlich einzigen ihm würdi-
gen Gegenstand, nämlich sich selbst. Das hat weniger mit Wahnsinn zu tun,
als mit Methode (vgl. auch Langer 2005, 97 u. Stegmaier 1992, 166 f.). Die
Methode liegt darin, das eigene Denken nicht bloß in seiner destruktiven Kraft
zu zeigen, sondern performativ in seiner Positivität vorzuführen. Das kann nur
an einem Exempel gezeigt werden. Dieses Exempel ist das sprechende, sich
selbst vergöttlichende Ich.
Das in EH praktizierte Verfahren soll, so N.s Intention, nicht verzweifelte
und fruchtlose Selbstbespiegelung (vgl. DD Zwischen Raubvögeln, KSA 6, 390,
24 f.) und intellektuelle Erschöpfung (vgl. Giorgio Colli in KSA 13, 664 f.), son-
dern den Aufbruch zu einer positiven Philosophie anzeigen. Das wird unterstri-
chen durch die zahlreichen Zitate aus Also sprach Zarathustra, namentlich aus
den Reden der Zarathustra-Figur selbst, die einerseits Beglaubigungscharakter
5 Stellenwert von Ecce homo in N.s Schaffen
Im Korpus von N.s Büchern hat EH eine einzigartige Stellung. Zum ersten und
einzigen Mal gießt N. in die Form eines Buches, was in Nachlassaufzeichnun-
gen sowie in den Paratexten anderer Bücher oft schon deutlich wurde, nämlich
die Selbstthematisierung als singuläres Denker-Individuum. Autogenealogi-
sche Überlegungen sind in N.s Werken zwar häufig virulent, werden aber erst
und nur in EH in die Form eines eigenständigen Werkes gebracht. Freilich dient
das genealogische Verfahren gerade nicht wie in der Genealogie der Moral der
Delegitimation — dort einiger zentraler Wertvorstellungen des (christlichen)
Abendlandes —, sondern im Gegenteil gerade der Legitimation, der Selbstlegi-
timation als Umwerter aller Werte. Versteht man EH, wie N. das Werk verstan-
den wissen will, als Vorbereitung auf die „Umwerthung aller Werthe", die er
von November 1888 an im Antichrist für literarisch realisiert hielt, erkennt man
unschwer den völlig entgegengesetzten Gebrauch, den N. von genealogischen
Verfahrensweisen macht: Dient im Antichrist das Herabsteigen in die Vor-,
Früh- und Hauptgeschichte des Christentums dazu, es als verwerflich zu ent-
larven, hat die gleiche Verfahrensweise, nämlich die Vor-, Früh- und Hauptge-
schichte des umwertenden Ichs ans Licht zu stellen, den gegenteiligen Effekt:
den der Rechtfertigung. EH zeigt also, dass das genealogische Verfahren kei-
neswegs nur negativ als Strategie der Entlarvung funktioniert, sondern ebenso
positiv als Strategie der Beglaubigung, der Überhöhung.
Die Bedeutung von EH liegt weniger darin, dass der Leser bestimmte Infor-
mationen zu N.s Leben, Werk- und Denkgenese erhält — all diese Informatio-
nen sind, wollte man sie als historische Tatsachen nehmen, mit großer Vorsicht
zu genießen. Die Bedeutung liegt vielmehr in der Neuartigkeit einer positiven
Genealogie. Das umwertende Ich, das sich bislang an so vielen Dingen kritisch-
genealogisch abgearbeitet hat, findet in EH den letztlich einzigen ihm würdi-
gen Gegenstand, nämlich sich selbst. Das hat weniger mit Wahnsinn zu tun,
als mit Methode (vgl. auch Langer 2005, 97 u. Stegmaier 1992, 166 f.). Die
Methode liegt darin, das eigene Denken nicht bloß in seiner destruktiven Kraft
zu zeigen, sondern performativ in seiner Positivität vorzuführen. Das kann nur
an einem Exempel gezeigt werden. Dieses Exempel ist das sprechende, sich
selbst vergöttlichende Ich.
Das in EH praktizierte Verfahren soll, so N.s Intention, nicht verzweifelte
und fruchtlose Selbstbespiegelung (vgl. DD Zwischen Raubvögeln, KSA 6, 390,
24 f.) und intellektuelle Erschöpfung (vgl. Giorgio Colli in KSA 13, 664 f.), son-
dern den Aufbruch zu einer positiven Philosophie anzeigen. Das wird unterstri-
chen durch die zahlreichen Zitate aus Also sprach Zarathustra, namentlich aus
den Reden der Zarathustra-Figur selbst, die einerseits Beglaubigungscharakter