Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0376
Lizenz: In Copyright

DWork-Logo
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Stellenkommentar EH Titel, KSA 6, S. 255 353

indem das Ecce homo in umgekehrtem Sinn auf mich angewendet worden.
Uebrigens habe ich alle Ursache mit dieser Naivetät des Herrn der Welt zufrie-
den zu seyn." (Ebd., 44) Zwar besaß N. den Briefwechsel zwischen Goethe und
Reinhard in den Jahren 1807 bis 1832 nicht; in der Goethe-Briefauswahl unter
seinen Büchern (Goethe 1837) ist der Brief an Reinhard auch nicht enthalten,
aber es darf doch vermutet werden, dass N. dieses Selbstbekenntnis Goethes
nicht nur bekannt war, sondern dass es bestens zu seinem eigenen Goethe-
Bild passte (in NL 1885, KSA 11, 38[7], 605, 32 f. spricht N. z. B. von Goethes
„heidnische[r]" „Frömmigkeit"). In diesem Goethe-Bild nahm die Begegnung
mit Napoleon eine Schlüsselstellung ein (vgl. NK KSA 6, 106, 17-21): Goethe
„hatte kein grösseres Erlebniss als jenes ens realissimum, genannt Napoleon"
(GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 49, KSA 6, 151, 22-24). Der verdeckte
Napoleon-Goethe-Bezug im Titel von N.s Autogenealogie ist frappierend, wenn
man sich vergegenwärtigt, wie stark N. sich in seinen letzten Schriften,
namentlich in der Götzen-Dämmerung gerade diesen beiden für ihn exemplari-
schen großen Individuen verbunden gefühlt hat: Goethe, Napoleon und er
selbst sind für N. die einzigen Gestalten der jüngeren Geschichte, die den
erstaunten Ausruf lohnen: „Ecce homines!"
Im Brief an Köselitz vom 30. 10. 1888 stand der Titel, unter dem N. über
sich selbst schrieb, schon fest (KSB 8, Nr. 1137, S. 462, zitiert in NK ÜK EH 1).
Zwei weitere Titelvarianten stellen Vorstufen dar: „ECCE HOMO / Ein Geschenk
an meine Freunde" und „ECCE HOMO / Oder / EinU'syehologen-Probl /
warum ich Einiges mehr weiss." (KSA 14, 465) Das Nachlass-Heft W II 9 bietet
weitere Titelentwürfe (vgl. NK ÜK EH 1), darunter „In media vita. / Auf-
zeichnungen eines / Dankbaren" (NL 1888, KSA 13, 24[2], 632), „Ecce homo /
Aufzeichnungen / eines Vielfachen" (ebd., 24[3], 632), „Fridericus Nietz-
sche / de vita sua. / Ins Deutsche übersetzt" (ebd., 24[4], 633), „Der Spie-
gel / Versuch / einer Selbstabschätzung" (ebd., 24[5], 633), „Vademecum./
Von der Vernunft meines Lebens" (ebd., 24[8], 634) und „Im Verkehr mit
den Alten. / Anhang / Ecce homo" (ebd., 24[9], 634). Es fällt auf, dass
es neben „Ecce homo" noch weitere lateinische Titelvarianten gibt, was mit
der „sehr ernsthafte[n] Ambition nach römischem Stil" zusammenhängt, zu
der sich N. in der ersten Fassung des Selbstdarstellungswerkes bekennt (vgl.
GD Was ich den Alten verdanke 1, KSA 6, 154, 20). In EH aspiriert N. wiederholt
auf Göttlichkeit, stellt sich aber zugleich in seiner menschlichen Passion, in
seiner Erniedrigung dar, was die Pilatus-Formel zum Ausdruck bringt, als ob
N. — vgl. die Kenosis, die Selbstentäußerung Christi nach Philipper 2, 7 — sich
all seiner göttlichen Attribute entledigen wollte. Detering 2009, 20 sieht hier
„das christologische Paradoxon" wirksam: „die Vorstellung also einer absoluten
Überwindung im Scheitern, einer göttlichen Hoheit in der Niedrigkeit, einer in
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften