Stellenkommentar EH weise, KSA 6, S. 267-268 373
diesem Thema finden sich bereits in NL 1882, KSA 9, 21[2], 681, 6-27: „Man hat
mich gelehrt, die Herkunft meines Blutes und Namens auf polnische Edelleute
zurückzuführen, welche Nietzky hießen und etwa vor hundert Jahren ihre Hei-
mat und ihren Adel aufgaben, unerträglichen religiösen Bedrückungen endlich
weichend: es waren nämlich Protestanten. Ich will nicht leugnen, daß ich als
Knabe keinen geringen Stolz auf diese meine polnische Abkunft hatte: was von
deutschem Blute in mir ist, rührt einzig von meiner Mutter, aus der Familie
Oehler, und von der Mutter meines Vaters, aus der Familie Krause, her, und es
wollte mir scheinen, als sei ich in allem Wesentlichen trotzdem Pole geblieben.
Daß mein Äußeres bis jetzt den polnischen Typus trägt, ist mir oft genug bestä-
tigt worden; im Auslande, wie in der Schweiz und in Italien, hat man mich oft
als Polen angeredet; in Sorrent, wo ich einen Winter verweilte, hieß ich bei
der Bevölkerung il Polacco; und namentlich bei einem Sommeraufenthalt in
Marienbad wurde ich mehrmals in auffallender Weise an meine polnische
Natur erinnert: Polen kamen auf mich zu, mich polnisch begrüßend und mit
einem ihrer Bekannten verwechselnd, und Einer, vor dem ich alles Polenthum
ableugnete und welchem ich mich als Schweizer vorstellte, sah mich traurig
längere Zeit an und sagte endlich ,es ist noch die alte Rasse, aber das Herz
hat sich Gott weiß wohin gewendet.'" Schon im Brief an Heinrich Köselitz aus
Marienbad am 20. 08. 1880 hatte es geheißen: „Ich lebe incognito, wie der
bescheidenste aller Kurgäste, in der Fremdenliste stehe ich als ,Herr Lehrer
Nietzsche'. Es giebt viel Polen hier und diese — es ist wunderlich — halten
mich durchaus für einen Polen, kommen mit polnischen Grüßen auf mich zu
und — glauben es mir nicht, wenn ich mich als Schweizer zu erkennen gebe.
,Es ist die polnische Rasse, aber das Herz ist Gott weiß wohin gewandert' —
damit verabschiedete sich einer von mir, ganz betrübt." (KSB 6, Nr. 49, S. 37,
Z. 42-49).
Zur polnischen Selbstmystifizierung N.s und ihrer Lektüre-Vorgeschichte in
Ernst von der Brüggens Polens Auflösung. Kulturgeschichtliche Skizzen aus den
letzten Jahrzehnten der polnischen Selbständigkeit (Leipzig 1878) siehe
Devreese / Biebuyck 2006. Hans von Müller weist in seinem erst 2002 publizier-
ten Aufsatz Nietzsches Vorfahren nach, dass N. trotz entsprechender Äußerun-
gen (vgl. z. B. Brief an Overbeck, 07. 04. 1884, KSB 6, Nr. 504, S. 494) kaum
adlige polnische Ahnen gehabt haben dürfte, so sehr Elisabeth Förster-N. auch
an der diesbezüglichen Tanten-Legende festgehalten hat (und — was der
bereits 1944 verstorbene Hans von Müller noch nicht wissen konnte — sogar
die entsprechende Passage in EH Warum ich so weise bin 3 nach der in KSA 14,
472 überlieferten Vorfassung vom Oktober 1888 frisiert hat). Vgl. NK KSA 6,
223, 22-25. Langer 2005, 104 liest 268, 2-4 als Beleg für N.s „eigenmächtige
Umformung, ja Nutzbarmachung von zufälligen Bedingtheiten (die zudem
diesem Thema finden sich bereits in NL 1882, KSA 9, 21[2], 681, 6-27: „Man hat
mich gelehrt, die Herkunft meines Blutes und Namens auf polnische Edelleute
zurückzuführen, welche Nietzky hießen und etwa vor hundert Jahren ihre Hei-
mat und ihren Adel aufgaben, unerträglichen religiösen Bedrückungen endlich
weichend: es waren nämlich Protestanten. Ich will nicht leugnen, daß ich als
Knabe keinen geringen Stolz auf diese meine polnische Abkunft hatte: was von
deutschem Blute in mir ist, rührt einzig von meiner Mutter, aus der Familie
Oehler, und von der Mutter meines Vaters, aus der Familie Krause, her, und es
wollte mir scheinen, als sei ich in allem Wesentlichen trotzdem Pole geblieben.
Daß mein Äußeres bis jetzt den polnischen Typus trägt, ist mir oft genug bestä-
tigt worden; im Auslande, wie in der Schweiz und in Italien, hat man mich oft
als Polen angeredet; in Sorrent, wo ich einen Winter verweilte, hieß ich bei
der Bevölkerung il Polacco; und namentlich bei einem Sommeraufenthalt in
Marienbad wurde ich mehrmals in auffallender Weise an meine polnische
Natur erinnert: Polen kamen auf mich zu, mich polnisch begrüßend und mit
einem ihrer Bekannten verwechselnd, und Einer, vor dem ich alles Polenthum
ableugnete und welchem ich mich als Schweizer vorstellte, sah mich traurig
längere Zeit an und sagte endlich ,es ist noch die alte Rasse, aber das Herz
hat sich Gott weiß wohin gewendet.'" Schon im Brief an Heinrich Köselitz aus
Marienbad am 20. 08. 1880 hatte es geheißen: „Ich lebe incognito, wie der
bescheidenste aller Kurgäste, in der Fremdenliste stehe ich als ,Herr Lehrer
Nietzsche'. Es giebt viel Polen hier und diese — es ist wunderlich — halten
mich durchaus für einen Polen, kommen mit polnischen Grüßen auf mich zu
und — glauben es mir nicht, wenn ich mich als Schweizer zu erkennen gebe.
,Es ist die polnische Rasse, aber das Herz ist Gott weiß wohin gewandert' —
damit verabschiedete sich einer von mir, ganz betrübt." (KSB 6, Nr. 49, S. 37,
Z. 42-49).
Zur polnischen Selbstmystifizierung N.s und ihrer Lektüre-Vorgeschichte in
Ernst von der Brüggens Polens Auflösung. Kulturgeschichtliche Skizzen aus den
letzten Jahrzehnten der polnischen Selbständigkeit (Leipzig 1878) siehe
Devreese / Biebuyck 2006. Hans von Müller weist in seinem erst 2002 publizier-
ten Aufsatz Nietzsches Vorfahren nach, dass N. trotz entsprechender Äußerun-
gen (vgl. z. B. Brief an Overbeck, 07. 04. 1884, KSB 6, Nr. 504, S. 494) kaum
adlige polnische Ahnen gehabt haben dürfte, so sehr Elisabeth Förster-N. auch
an der diesbezüglichen Tanten-Legende festgehalten hat (und — was der
bereits 1944 verstorbene Hans von Müller noch nicht wissen konnte — sogar
die entsprechende Passage in EH Warum ich so weise bin 3 nach der in KSA 14,
472 überlieferten Vorfassung vom Oktober 1888 frisiert hat). Vgl. NK KSA 6,
223, 22-25. Langer 2005, 104 liest 268, 2-4 als Beleg für N.s „eigenmächtige
Umformung, ja Nutzbarmachung von zufälligen Bedingtheiten (die zudem