378 Ecce homo. Wie man wird, was man ist
durchaus lobenswertes. Ein jeder hütete sich, durch ungehörige Aufführung
den Mann zu verletzen, der mit dem höchsten Wissen die feinsten Umgangsfor-
men verband, der in seinem ganzen Auftreten etwas Vornehmes hatte und
doch den Schülern mit lauter Güte und Wohlwollen begegnete, so gar nichts
vom Uebermenschen. / In unserer Klasse hatte vor einer der ersten Stunden
ein Schüler, der später selber ein trefflicher Gymnasiallehrer geworden ist, mit
Kreide ein Herz auf den Pultdeckel gezeichnet und zwei Veilchensträußchen
hineingelegt. Als Nietzsche das Zimmer betrat, warf er nur, tief errötend, einen
flüchtigen Blick auf die Bescherung und begann, ohne ein Wort darüber zu
verlieren, wie sonst seinen Unterricht; von da an ist in unserer Klasse nie
wieder auch nur das geringste Ungehörige vorgekommen. Die Disziplin war bei
ihm wie bei Jacob Burckhardt etwas Selbstverständliches. Als Nietzsche einmal
von einem Kollegen gefragt wurde, wie es ihm mit der Disziplin gehe, lautete
die Antwort: ,Disziplin? Davon weiß ich nichts! Ich habe die Schwachen zu
fördern und zu schützen.'" (CBT 196) Zum Thema ausführlich Gutzwiller 1951
(dort S. 220-224 auch ein Verzeichnis von N.s Schülern).
269, 23 f. Dem Zufall bin ich immer gewachsen; ich muss unvorbereitet sein, um
meiner Herr zu sein.] Im Blick auf ein Erdbeben, das er eben in Nizza erlebt und
dessen massenpsychologische Folgen er mit kühlem Interesse beobachtet hatte,
schrieb N. am 07. 03. 1887 an Köselitz: „Das Plötzliche, das imprevu hat seine
Reize..." (KSB 8, Nr. 814, S. 42, Z. 75 f.) Er spielt damit auf Stendhal an, von dem er
wusste, dass er das Unvorhergesehene geliebt habe (Stendhal 1877, XLII: „Beyle a
toujours adore l'imprevu", vgl. Bourget 1883, 267; Nachweis bei Fornari / Cam-
pioni 2011, 8 f., Fn. 14. „Beyle hat das Unvorhergesehene immer verehrt.")
Mit dem Thema einer „Erlösung vom Zufalle" hat sich Herrmann 1887, 1-22
auseinandergesetzt (vgl. NK KSA 6, 115, 26-28): „Der Zufall ist immer schädlich,
immer unöl<onomisch, und immer ein Zeichen primitiver Cultur oder unentwickel-
ter Verhältnisse in einem speciellen Zweige menschlichen oder Naturschaffens."
(Herrmann 1887, 8; Kursiviertes von N. unterstrichen, Passage am Rand markiert).
In der Wendung 269, 23 f. klingt N.s großes Thema des „amor fati" an (FW 276,
KSA 3, 521, 22 u. ö.), vgl. NK 297, 24 f. und auch NK KSA 6, 407, 5 f.
269, 30-270, 1 Am schönsten vielleicht von jenem unverzeihlich jung gestorbe-
nen Heinrich von Stein, der einmal, nach sorgsam eingeholter Erlaubniss, auf
drei Tage in Sils-Maria erschien] Der Philosoph Heinrich von Stein (1857-1887),
kurzzeitig Erzieher von Siegfried Wagner in Bayreuth, engagierter Anhänger
Richard Wagners und ab 1881 Privatdozent in Halle, besuchte N. vom 26. bis
28. August 1884 in Sils-Maria: „Das Erlebniß des Sommers war der Besuch
Baron Stein's (er kam direkt aus Deutschland für 3 Tage nach Sils und reiste
direkt wieder zu seinem Vater — eine Manier, in einen Besuch Accent zu
durchaus lobenswertes. Ein jeder hütete sich, durch ungehörige Aufführung
den Mann zu verletzen, der mit dem höchsten Wissen die feinsten Umgangsfor-
men verband, der in seinem ganzen Auftreten etwas Vornehmes hatte und
doch den Schülern mit lauter Güte und Wohlwollen begegnete, so gar nichts
vom Uebermenschen. / In unserer Klasse hatte vor einer der ersten Stunden
ein Schüler, der später selber ein trefflicher Gymnasiallehrer geworden ist, mit
Kreide ein Herz auf den Pultdeckel gezeichnet und zwei Veilchensträußchen
hineingelegt. Als Nietzsche das Zimmer betrat, warf er nur, tief errötend, einen
flüchtigen Blick auf die Bescherung und begann, ohne ein Wort darüber zu
verlieren, wie sonst seinen Unterricht; von da an ist in unserer Klasse nie
wieder auch nur das geringste Ungehörige vorgekommen. Die Disziplin war bei
ihm wie bei Jacob Burckhardt etwas Selbstverständliches. Als Nietzsche einmal
von einem Kollegen gefragt wurde, wie es ihm mit der Disziplin gehe, lautete
die Antwort: ,Disziplin? Davon weiß ich nichts! Ich habe die Schwachen zu
fördern und zu schützen.'" (CBT 196) Zum Thema ausführlich Gutzwiller 1951
(dort S. 220-224 auch ein Verzeichnis von N.s Schülern).
269, 23 f. Dem Zufall bin ich immer gewachsen; ich muss unvorbereitet sein, um
meiner Herr zu sein.] Im Blick auf ein Erdbeben, das er eben in Nizza erlebt und
dessen massenpsychologische Folgen er mit kühlem Interesse beobachtet hatte,
schrieb N. am 07. 03. 1887 an Köselitz: „Das Plötzliche, das imprevu hat seine
Reize..." (KSB 8, Nr. 814, S. 42, Z. 75 f.) Er spielt damit auf Stendhal an, von dem er
wusste, dass er das Unvorhergesehene geliebt habe (Stendhal 1877, XLII: „Beyle a
toujours adore l'imprevu", vgl. Bourget 1883, 267; Nachweis bei Fornari / Cam-
pioni 2011, 8 f., Fn. 14. „Beyle hat das Unvorhergesehene immer verehrt.")
Mit dem Thema einer „Erlösung vom Zufalle" hat sich Herrmann 1887, 1-22
auseinandergesetzt (vgl. NK KSA 6, 115, 26-28): „Der Zufall ist immer schädlich,
immer unöl<onomisch, und immer ein Zeichen primitiver Cultur oder unentwickel-
ter Verhältnisse in einem speciellen Zweige menschlichen oder Naturschaffens."
(Herrmann 1887, 8; Kursiviertes von N. unterstrichen, Passage am Rand markiert).
In der Wendung 269, 23 f. klingt N.s großes Thema des „amor fati" an (FW 276,
KSA 3, 521, 22 u. ö.), vgl. NK 297, 24 f. und auch NK KSA 6, 407, 5 f.
269, 30-270, 1 Am schönsten vielleicht von jenem unverzeihlich jung gestorbe-
nen Heinrich von Stein, der einmal, nach sorgsam eingeholter Erlaubniss, auf
drei Tage in Sils-Maria erschien] Der Philosoph Heinrich von Stein (1857-1887),
kurzzeitig Erzieher von Siegfried Wagner in Bayreuth, engagierter Anhänger
Richard Wagners und ab 1881 Privatdozent in Halle, besuchte N. vom 26. bis
28. August 1884 in Sils-Maria: „Das Erlebniß des Sommers war der Besuch
Baron Stein's (er kam direkt aus Deutschland für 3 Tage nach Sils und reiste
direkt wieder zu seinem Vater — eine Manier, in einen Besuch Accent zu