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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0432
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Stellenkommentar EH klug, KSA 6, S. 283-284 409

[...] vergessen wir nur nicht, daß allen weit voran das Lesen gepflegt werden
muß. Und wenn wir uns erziehen durch Lesen, so ist es auch andererseits
notwendig, daß wir zum Lesen uns erziehen." (Schönbach 1888, 116 f.) Zum
Lesen zu erziehen versucht N. in den Vorreden seiner Werke seine Leser regel-
mäßig; für seinen eigenen Teil distanziert er sich jedoch von allem lesenden
Ernst, wie ihn in bildungsbürgerlicher Manier Schönbach fordert. Ja, er stili-
siert sich (gegen alle quellenkundliche Evidenz) geradezu zum Nicht-Leser (vgl.
EH Warum ich so klug bin 3, KSA 6, 284, 25 f.). N.s schriftstellerische Strategie
insbesondere des letzten Schaffensjahres zielt darauf, jede Rezipierbarkeit sei-
ner Schriften als bloße Literatur, damit zur „Erholung" zu unterbinden und
Literatur quasi Tat werden zu lassen: Während das sprechende Ich das von
ihm Gelesene zum Erholungsmittel degradiert, soll das von ihm Geschriebene
bei seinen Lesern keinesfalls Erholungsbedürfnisse befriedigen, mag der
Schreibende selbst für sich das Geschriebene auch ausdrücklich als Erholung
ansehen (GD Vorwort, KSA 6, 58, 6): N.s Leser soll sich an dieser Lektüre abar-
beiten und ein neues, umgewertetes Leben beginnen. N. misst seine eigenen
Lektüren und die N.-Lektüren anderer mit zweierlei Maß.
284, 14-16 die Schwangerschaft den Geist und im Grunde den ganzen Organis-
mus verurtheilt] Die Vorstellung „geistiger Schwangerschaft" (284, 20) kommt bei
N. recht häufig vor (z. B. MA II VM 216; KSA 2, 470; FW 72, KSA 3, 430; GM III
8, KSA 5, 355): sie kann auch „unbewusst" bleiben (MA I Vorrede 7, KSA 2, 21,
12). In EH Warum ich so klug bin 3 dient der Rekurs auf geistige Schwangerschaft
dazu, die allfällige Übereinstimmung mit den intellektuellen Erzeugnissen ande-
rer, sprich: mit deren Ideen und Büchern, als nicht rechtfertigungsbedürftig
erscheinen zu lassen. Die Vorstellung selbst geht auf die Hebammenkunst des
Platonischen Sokrates zurück, vgl. Platon: Theaitetos 149-150. Den Ausdruck
„geistige Schwangerschaft" selbst könnte N. in diesem Zusammenhang etwa bei
Susemihl 1855, 209 gefunden haben (zu N.s Suhsemihl-Rezeption siehe NK
KSA 6, 71, 8 f.).
284, 17 f. Man muss dem Zufall, dem Reiz von aussen her so viel als möglich
aus dem Wege gehn) Vgl. NK 269, 23 f. Herrmann 1887, 12 definiert Kultur als
„Kampf mit dem Zufalle".
284, 20 geistigen Schwangerschaft] Vgl. NK 284, 14-16.
284, 20 f. Werde ich es erlauben, dass ein fremder Gedanke heimlich über
die Mauer steigt?] Ja, unentwegt!
284, 25 f. Ich muss ein Halbjahr zurückrechnen, dass ich mich mit einem Buch
in der Hand ertappe.] Brobjer 2008b, 7 stellt lapidar fest, dass diese Behaup-
tung eine bewusste Irreführung ist; im fraglichen halben Jahr hat N. abgesehen
 
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