Stellenkommentar EH klug, KSA 6, S. 287 425
287, 3-6 Dergleichen erräth man nicht, — man ist es oder man ist es nicht. Der
grosse Dichter schöpft nur aus seiner Realität — bis zu dem Grade, dass er
hinterdrein sein Werk nicht mehr aushält...] Diese emphatische Identifikation
des poetischen Stoffes mit der Persönlichkeit des Dichters ist keineswegs eine
originelle Überlegung N.s, sondern findet sich beispielsweise in einer theoreti-
schen Programmschrift des literarischen Naturalismus, die N. 1887 gelesen
(und sehr kritisch beurteilt) hat, nämlich in Carl Bleibtreus Revolution der Lite-
ratur: „Subjectivität ist Wahrheit, sogar das einzige bestimmt Wahre,
und Wahrheit das erste Erforderniss des literarischen Werthes. Freilich muss
sich eine objective Subjectivität und eine subjective Objectivität verbinden.
Goethe giebt uns ein Musterbeispiel in Tasso und Antonio, wo er seine Persön-
lichkeit in zwei Theile zerschlägt und sich gegenüberstellt. Der wahre Dichter
erfindet nie, sondern erlebt." (Bleibtreu 1886a=1886b, 90, zu N.s Rezep-
tion dieses Buches siehe NK KSA 6, 50, 22-24) Bei Bleibtreu, der sich im Übri-
gen wie N. in EH Warum ich so klug bin 4 über Byron als exemplarischen
Dichter verbreitet (ebd., 90-93), folgt eine Überlegung, die bei N. in diesem
Kontext nicht auftaucht, nämlich: „Das Höchste erreicht er [sc. der Dichter]
aber, indem er aus dem Endlich-Selbsterlebten sich das Unendlich-Allgemeine
combinirt und construirt und Formeln für das Ewige in lebendige handelnde
Figuren umsetzt, wie in Werther und Faust." (Bleibtreu 1886b, 90, sehr ähnlich
Bleibtreu 1886a, 90) N. hätte 1888 vermutlich nicht nur das Ausgreifen auf ein
theologisch kontaminiertes Ewiges missfallen, sondern ebenso der bei Bleib-
treu unhinterfragt bleibende Gegensatz von „Endlich-Selbsterlebtem" und
„Unendlich-Allgemeinem".
287, 6-9 Wenn ich einen Blick in meinen Zarathustra geworfen habe, gehe ich
eine halbe Stunde im Zimmer auf und ab, unfähig, über einen unerträglichen
Krampf von Schluchzen Herr zu werden.] Vgl. EH Za 5, KSA 6, 341 f. und die in
NK 341, 31-342, 32 sowie NK 342, 19-32 (KSA 14, 496-499) dazu mitgeteilten
Vorarbeiten.
287, 26-31 Gesetzt, ich hätte meinen Zarathustra auf einen fremden Namen
getauft, zum Beispiel auf den von Richard Wagner, der Scharfsinn von zwei Jahr-
tausenden hätte nicht ausgereicht, zu errathen, dass der Verfasser von „Mensch-
liches, Allzumenschliches" der Visionär des Zarathustra ist...] In dieser Stimmen-
vielfalt gibt es dann keinen ,eigentlichen' N. mehr — der Anspruch von EH, zu
sagen, „wer ich bin" (EH Vorwort 1, KSA 6, 257, 5 f.), droht sich in einer
irreduziblen Vielfalt unterschiedlicher N.-Emanationen aufzulösen. Die Werk-
Retraktationen von der Geburt der Tragödie bis zum Fall Wagner, die EH später
präsentiert, sollen gerade diesem Eindruck entgegenwirken und den eigenen
Denkweg als konsequent erscheinen lassen.
287, 3-6 Dergleichen erräth man nicht, — man ist es oder man ist es nicht. Der
grosse Dichter schöpft nur aus seiner Realität — bis zu dem Grade, dass er
hinterdrein sein Werk nicht mehr aushält...] Diese emphatische Identifikation
des poetischen Stoffes mit der Persönlichkeit des Dichters ist keineswegs eine
originelle Überlegung N.s, sondern findet sich beispielsweise in einer theoreti-
schen Programmschrift des literarischen Naturalismus, die N. 1887 gelesen
(und sehr kritisch beurteilt) hat, nämlich in Carl Bleibtreus Revolution der Lite-
ratur: „Subjectivität ist Wahrheit, sogar das einzige bestimmt Wahre,
und Wahrheit das erste Erforderniss des literarischen Werthes. Freilich muss
sich eine objective Subjectivität und eine subjective Objectivität verbinden.
Goethe giebt uns ein Musterbeispiel in Tasso und Antonio, wo er seine Persön-
lichkeit in zwei Theile zerschlägt und sich gegenüberstellt. Der wahre Dichter
erfindet nie, sondern erlebt." (Bleibtreu 1886a=1886b, 90, zu N.s Rezep-
tion dieses Buches siehe NK KSA 6, 50, 22-24) Bei Bleibtreu, der sich im Übri-
gen wie N. in EH Warum ich so klug bin 4 über Byron als exemplarischen
Dichter verbreitet (ebd., 90-93), folgt eine Überlegung, die bei N. in diesem
Kontext nicht auftaucht, nämlich: „Das Höchste erreicht er [sc. der Dichter]
aber, indem er aus dem Endlich-Selbsterlebten sich das Unendlich-Allgemeine
combinirt und construirt und Formeln für das Ewige in lebendige handelnde
Figuren umsetzt, wie in Werther und Faust." (Bleibtreu 1886b, 90, sehr ähnlich
Bleibtreu 1886a, 90) N. hätte 1888 vermutlich nicht nur das Ausgreifen auf ein
theologisch kontaminiertes Ewiges missfallen, sondern ebenso der bei Bleib-
treu unhinterfragt bleibende Gegensatz von „Endlich-Selbsterlebtem" und
„Unendlich-Allgemeinem".
287, 6-9 Wenn ich einen Blick in meinen Zarathustra geworfen habe, gehe ich
eine halbe Stunde im Zimmer auf und ab, unfähig, über einen unerträglichen
Krampf von Schluchzen Herr zu werden.] Vgl. EH Za 5, KSA 6, 341 f. und die in
NK 341, 31-342, 32 sowie NK 342, 19-32 (KSA 14, 496-499) dazu mitgeteilten
Vorarbeiten.
287, 26-31 Gesetzt, ich hätte meinen Zarathustra auf einen fremden Namen
getauft, zum Beispiel auf den von Richard Wagner, der Scharfsinn von zwei Jahr-
tausenden hätte nicht ausgereicht, zu errathen, dass der Verfasser von „Mensch-
liches, Allzumenschliches" der Visionär des Zarathustra ist...] In dieser Stimmen-
vielfalt gibt es dann keinen ,eigentlichen' N. mehr — der Anspruch von EH, zu
sagen, „wer ich bin" (EH Vorwort 1, KSA 6, 257, 5 f.), droht sich in einer
irreduziblen Vielfalt unterschiedlicher N.-Emanationen aufzulösen. Die Werk-
Retraktationen von der Geburt der Tragödie bis zum Fall Wagner, die EH später
präsentiert, sollen gerade diesem Eindruck entgegenwirken und den eigenen
Denkweg als konsequent erscheinen lassen.