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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0460
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Stellenkommentar EH klug, KSA 6, S. 292-293 437

Die wohlwollend klingenden Äußerungen gegenüber Wagner in EH Warum
ich so klug bin 5 und 6 lassen sich durchaus als Exempel für die in 292, 23-
26 in Aussicht gestellte, intellektuelle Großzügigkeit der „offnen Hände" ver-
stehen, die es eben nicht mehr nötig hat, sich durch Kleinreden und Verneinen
von Widerständigem zu distanzieren. Der Gestus in der Selbstbeschreibung
„Warum ich so klug bin" ist der der Integration — wobei all dies als Beleg für
die Großgeartetheit, die megalopsychia des Ichs dienen soll, das hier von sich
selbst spricht.
292, 27-31 Eine andre Klugheit und Selbstvertheidigung besteht darin, dass
man so selten als möglich reagirt und dass man sich Lagen und Bedin-
gungen entzieht, wo man verurtheilt wäre, seine „Freiheit", seine Initiative
gleichsam auszuhängen und ein blosses Reagens zu werden.] N. nimmt hier
sowie in GD Was den Deutschen abgeht 6 (KSA 6, 108, 29-31) und in EH Warum
ich so weise bin 2 (KSA 6, 267, 20 f.) einen Gedanken von Fere 1887, 133 auf:
„L'impassibilite est un signe de force" („Gleichmut ist ein Zeichen von Stärke").
Nach GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 10 (KSA 6, 117, 30-32) macht es hin-
gegen den dionysischen Zustand aus, reagieren zu müssen, während es in 292,
27-31 als Makel erscheint. In GD Moral als Widernatur 2 (KSA 6, 83, 20 f.) gilt
die Unfähigkeit, sich einer Reizreaktion zu enthalten, als Zeichen von Degene-
reszenz und Willensschwäche (vgl. NL 1888, KSA 13, 14[46], 240 = KGW IX 8,
W II 5, 165, 48-62). Der völlig konträre Gebrauch des Arguments je nach Kon-
text zeigt, wie stark situativ N. naturwissenschaftliche Erkenntnisse verwertet.
292, 32-293, 13 Der Gelehrte, der im Grunde nur noch Bücher „wälzt" — der
Philologe mit mässigem Ansatz des Tags ungefähr 200 — verliert zuletzt ganz
und gar das Vermögen, von sich aus zu denken. Wälzt er nicht, so denkt er nicht.
Er antwortet auf einen Reiz (— einen gelesenen Gedanken), wenn er denkt, —
er reagirt zuletzt bloss noch. Der Gelehrte giebt seine ganze Kraft im Ja und
Neinsagen, in der Kritik von bereits Gedachtem ab, — er selber denkt nicht
mehr... Der Instinkt der Selbstvertheidigung ist bei ihm mürbe geworden; im
andren Falle würde er sich gegen Bücher wehren. Der Gelehrte — ein decadent. —
Das habe ich mit Augen gesehn: begabte, reich und frei angelegte Naturen schon
in den dreissiger Jahren „zu Schanden gelesen", bloss noch Streichhölzer, die
man reiben muss, damit sie Funken — „Gedanken" geben. — Frühmorgens beim
Anbruch des Tags, in aller Frische, in der Morgenröthe seiner Kraft, ein Buch
lesen — das nenne ich lasterhaft!] Das Ich präsentiert sich als jemand, der
gerade diesem Gelehrtenlaster der bloßen Reaktivität nicht unterliegt und stellt
sich damit in die Tradition des Original-Genies, das alles aus sich heraus
schöpft. N.s eigene exzessive Lektürepraxis ist freilich nicht frei von Reaktivi-
tät, auch wenn seine Lektürespuren dokumentieren, dass er alles, was er liest,
 
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