Stellenkommentar EH Bücher, KSA 6, S. 305-306 475
physiologischer Mangel — ich sage nicht Alles, ich würde sonst medi-cynisch
reden müssen werden".
306, 9-11 Bei allen sogenannten „schönen Seelen" giebt es einen physiologi-
schen Übelstand auf dem Grunde] Vgl. NK KSA 6, 157, 2-4.
396, llf. medi-cynisch] Die Worttrennung ist nicht dem Zeilenumbruch im
Druck von KGW u. KSA geschuldet, sondern steht so im Manuskript (genauer:
„medi=cynisch", Dm fol. 45). Bei diesem Hapax legomenon in N.s Schriften,
der „medicinisch" und „cynisch" launig zusammenzieht, handelt es sich nicht
um eine sprachschöpferische Innovation N.s. Der Ausdruck ist — ohne Wort-
trennstrich notabene — bereits belegt in der „Comoedia medico-practica" Die
Metamorphosen des Trigeminus des Longus Supinator (vulgo: Rückwärtswen-
dermuskel der Hand), die 1864 uraufgeführt wurde und 1866 im Druck
erschien. Dort sagt Pompholyx zu Calomel: „Pfui, lassen Sie Ihre zartfühlenden
Anspielungen und werden Sie nicht cynisch." Dieser erwidert: „Bloss medicy-
nisch, werthgeschätzter Herr." (Longus 1866, 38).
306, 12 f. Der Kampf um gleiche Rechte ist sogar ein Symptom von Krankheit:
jeder Arzt weiss das] Vgl. NK KSA 6, 27, 25. Zur Frage des Frauenstimmrechts
und der Frauengleichberechtigung hat N. beispielsweise den Aufsatz Enfranchi-
sement of Women (1851) von (Harriet Taylor und) John Stuart Mill in der Über-
setzung von Siegmund (sic) Freud gelesen und mit zahlreichen Lesespuren
versehen (Ueber Frauenemancipation; Mill 1869-1880, 12, 1-29). Mill berichtet
vom Aufkommen einer neuen Frage in den USA: „Diese Frage ist die Emancipa-
tion der Frauen, ihre gesetzliche und thatsächliche Gleichstellung in allen poli-
tischen, bürgerlichen und socialen Rechten mit den männlichen Mitgliedern
des Gemeinwesens." (Ebd., 1) Zu N. und Mill siehe auch Fornari 2009, 172-252.
306, 17-20 Hat man Ohren für meine Definition der Liebe gehabt? es ist die
einzige, die eines Philosophen würdig ist. Liebe — in ihren Mitteln der Krieg, in
ihrem Grunde der Todhass der Geschlechter.] N. hat diese „Definition" in Anleh-
nung an die Darstellung der Liebe in Bizets Carmen vorgeschlagen: „Die Liebe,
die in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhass der Geschlechter
ist! — Ich weiss keinen Fall, wo der tragische Witz, der das Wesen der Liebe
macht, so streng sich ausdrückte, so schrecklich zur Formel würde, wie im
letzten Schrei Don Jose's, mit dem das Werk schliesst: / ,Ja! Ich habe sie
getödtet, / ich — meine angebetete Carmen!' / — Eine solche Auffassung der
Liebe (die einzige, die des Philosophen würdig ist — ) ist selten: sie hebt ein
Kunstwerk unter Tausenden heraus." (WA 2, KSA 6, 15, 25-34).
N. fand seine Definition plötzlich auch andernorts schon umgesetzt. So
schrieb er am 27. 11. 1888 an Strindberg zu dessen Stück Fadren: „Ich las zwei
physiologischer Mangel — ich sage nicht Alles, ich würde sonst medi-cynisch
reden müssen werden".
306, 9-11 Bei allen sogenannten „schönen Seelen" giebt es einen physiologi-
schen Übelstand auf dem Grunde] Vgl. NK KSA 6, 157, 2-4.
396, llf. medi-cynisch] Die Worttrennung ist nicht dem Zeilenumbruch im
Druck von KGW u. KSA geschuldet, sondern steht so im Manuskript (genauer:
„medi=cynisch", Dm fol. 45). Bei diesem Hapax legomenon in N.s Schriften,
der „medicinisch" und „cynisch" launig zusammenzieht, handelt es sich nicht
um eine sprachschöpferische Innovation N.s. Der Ausdruck ist — ohne Wort-
trennstrich notabene — bereits belegt in der „Comoedia medico-practica" Die
Metamorphosen des Trigeminus des Longus Supinator (vulgo: Rückwärtswen-
dermuskel der Hand), die 1864 uraufgeführt wurde und 1866 im Druck
erschien. Dort sagt Pompholyx zu Calomel: „Pfui, lassen Sie Ihre zartfühlenden
Anspielungen und werden Sie nicht cynisch." Dieser erwidert: „Bloss medicy-
nisch, werthgeschätzter Herr." (Longus 1866, 38).
306, 12 f. Der Kampf um gleiche Rechte ist sogar ein Symptom von Krankheit:
jeder Arzt weiss das] Vgl. NK KSA 6, 27, 25. Zur Frage des Frauenstimmrechts
und der Frauengleichberechtigung hat N. beispielsweise den Aufsatz Enfranchi-
sement of Women (1851) von (Harriet Taylor und) John Stuart Mill in der Über-
setzung von Siegmund (sic) Freud gelesen und mit zahlreichen Lesespuren
versehen (Ueber Frauenemancipation; Mill 1869-1880, 12, 1-29). Mill berichtet
vom Aufkommen einer neuen Frage in den USA: „Diese Frage ist die Emancipa-
tion der Frauen, ihre gesetzliche und thatsächliche Gleichstellung in allen poli-
tischen, bürgerlichen und socialen Rechten mit den männlichen Mitgliedern
des Gemeinwesens." (Ebd., 1) Zu N. und Mill siehe auch Fornari 2009, 172-252.
306, 17-20 Hat man Ohren für meine Definition der Liebe gehabt? es ist die
einzige, die eines Philosophen würdig ist. Liebe — in ihren Mitteln der Krieg, in
ihrem Grunde der Todhass der Geschlechter.] N. hat diese „Definition" in Anleh-
nung an die Darstellung der Liebe in Bizets Carmen vorgeschlagen: „Die Liebe,
die in ihren Mitteln der Krieg, in ihrem Grunde der Todhass der Geschlechter
ist! — Ich weiss keinen Fall, wo der tragische Witz, der das Wesen der Liebe
macht, so streng sich ausdrückte, so schrecklich zur Formel würde, wie im
letzten Schrei Don Jose's, mit dem das Werk schliesst: / ,Ja! Ich habe sie
getödtet, / ich — meine angebetete Carmen!' / — Eine solche Auffassung der
Liebe (die einzige, die des Philosophen würdig ist — ) ist selten: sie hebt ein
Kunstwerk unter Tausenden heraus." (WA 2, KSA 6, 15, 25-34).
N. fand seine Definition plötzlich auch andernorts schon umgesetzt. So
schrieb er am 27. 11. 1888 an Strindberg zu dessen Stück Fadren: „Ich las zwei