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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0543
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520 Ecce homo. Wie man wird, was man ist

trösten, wo wir Trost bedürfen." (KSB 5, Nr. 669, S. 288, Z. 18-20) Von einer
„Kreuzung der zwei Bücher" kann nur cum grano salis die Rede sein: N. bekam
den Parsifal Anfang Januar 1878, während Wagner erst Ende April 1878 Mensch-
liches, Allzumenschliches in Händen hielt. Wagner reagierte in seiner versteck-
ten Polemik Publikum und Popularität (erschienen August / September 1878 in
den Bayreuther Blättern) scharf auf N.s Hinwendung zu einer kritischeren und
aufklärerischen Philosophieauffassung.
327, 19 f. „seinem theuren Freunde Friedrich Nietzsche, Richard Wagner, Kir-
chenrath"] Wagners Widmung an N. auf der Luxus-Ausgabe des Parsifal vom
1. Januar 1878 lautete: „Herzlichsten Gruss und Wunsch / seinem / Theuren
Freunde / Friedrich Nietzsche / Richard Wagner / (Oberkirchenrath: / zur
freundlichen Mittheilung / an Professor Overbeck.)" (KGB II 6/2, Nr. 1025, S. 788
u. NPB 642). Die Selbstbezeichnung „Oberkirchenrath" ist offenkundig iro-
nisch. Dies wird unterstrichen durch die Adressierung an Overbeck, der Wag-
ner als Verfasser der Christlichkeit unserer heutigen Theologie, damit als Vertre-
ter einer gegenüber dem kirchlichen Christentum radikal befreiten, kritischen
Theologie vor Augen stand. Diese Selbstironie Wagners wollte N. nicht wahrha-
ben. Thomas Mann kommentierte 1933 im Aufsatz Leiden und Größe Richard
Wagners: „Unter Kameraden ist der Künstler denn auch derart bereit, seine
Feierlichkeit zu verspotten, daß Wagner die Parsifaldichtung an Nietzsche mit
der Eintragung schicken konnte: ,Richard Wagner, Oberkirchenrat.' Aber Nietz-
sche war kein Künstler-Kamerad; ein so gutmütig augenblinzelndes Entgegen-
kommen vermochte nicht seinen tödlich-grämlichen, seinen absoluten Ernst
versöhnlich zu stimmen gegen die römelnde Christlichkeit" (Mann 1990, 9,
395).
Kritisch äußerte sich N. schon ummittelbar nach Empfang der Dichtung
im Brief an Reinhart von Seydlitz, 04. 01. 1878, KSB 5, Nr. 678, S. 300, Z. 11-16:
„mir, der ich zu sehr an das Griechische, menschlich Allgemeine gewöhnt bin,
ist Alles zu christlich zeitlich beschränkt; lauter phantastische Psychologie;
kein Fleisch und viel zu viel Blut (namentlich beim Abendmahl geht es mir zu
vollblütig her), dann mag ich hysterische Frauenzimmer nicht". Am 16. 07. 1882
schrieb N. an Lou von Salome: „Die letzten geschriebenen Worte W's an mich
stehen in einem schönen Widmungs-Exemplare des Parsifal ,Meinem theuren
Freunde Friedrich Nietzsche. Richard Wagner, Ober-Kirchenrath.' Genau zu
gleicher Zeit traf, von mir gesendet, bei ihm mein Buch ,Menschliches Allzu-
menschliches' ein — und damit war Alles klar, aber auch Alles zu Ende."
(KSB 6, Nr. 269, S. 229, Z. 29-34) Die historisch nicht ganz haltbare Koinzidenz
von Parsifal und MA I ist also bereits 1882 als rhetorische Verkürzung einge-
führt. Von einer Begegnung mit Wagner wohl im Herbst 1876 in Sorrent berich-
tete N. 1886: „er begann vom ,Blute des Erlösers' zu reden, ja es gab eine
 
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