Stellenkommentar EH Zarathustra, KSA 6, S. 336 543
einem Brief an Elisabeth vom 26. 12. 1887, der allerdings nur in einer fäl-
schungsverdächtigen, sogenannten „Urabschrift" der Empfängerin überliefert
ist, soll er geschrieben haben: „Wenn Euer Buchhändler Euch meine Composi-
tion schicken sollte, so wirst Du die Melodie erkennen. Sie stammt aus meiner
glücklichsten Zeit, als ich ,Schopenhauer als Erzieher' schrieb und noch an
Freunde und Freundschaft glaubte. Bei manchen Stellen höre ich weit in der
Ferne den Rheinfall rauschen. Weißt Du noch? — Aber Verse und Orchestrirung
sind nicht von mir, das weißt Du auch. Es ist bei dieser Veröffentlichung ein
wenig Mystifikation, die gelegentlich am rechten Ort aufgeklärt werden soll."
(KGB III 7/3, 1, Nr. 7 (965a), S. 27, Z. 72-78) Es ist durchaus möglich, dass Elisa-
beth Förster-N. retrospektiv den Eindruck erwecken wollte, ihr Bruder habe die
Absicht gehabt, die wahre, dreifache Werkurheberschaft öffentlich zu machen,
sobald das Werk beim Publikum Anklang gefunden hätte (so Love 1981, 117).
Jedenfalls liest sich der Passus über die „Mystifikation" im angeblichen Brief
an die Schwester so, als habe diese um jeden Preis die Redlichkeit ihres Bru-
ders im Umgang mit geistigem Eigentum beweisen wollen — was, abgesehen
vom Stil dieses Passus, den Verdacht nährt, sie selbst sei um dieses höheren
Zweckes willen als Brief(ver)fälscherin unredlich geworden.
Bevor es jedenfalls zu einer Aufklärung dieser „Mystifikation" zumindest
im Hinblick auf die Gedichturheberschaft durch N. kommen konnte (die Stelle
336, 17-21 wurde erstmals 1908 in der Erstausgabe von EH publik), veröffent-
lichte Friedrich Carl Andreas, der seit 1887 mit Lou von Salome verheiratet
war, eine eigene Richtigstellung in der Deutschen Rundschau. Veranlasst fühlte
er sich dazu durch einen Aufsatz von Georg Brandes, der den Hymnus N.
zuschrieb (Brandes 1890, 85; vgl. NK 336, 21-23). „Das dort erwähnte und zum
Theil wiedergegebene Gedicht, ,Hymnus an das Leben'", so stellte Andreas
richtig, „rührt nicht von Nietzsche her, sondern ist nur von ihm componirt
worden. Herr Dr. Brandes ist durch den Umstand irregeführt worden, daß auf
dem Titelblatt der Musik für das Gedicht selbst kein Verfasser genannt, son-
dern dasselbe einfach als von Nietzsche componirt bezeichnet ist. Hieraus lag
es nahe, zu folgern, daß nicht nur die Musik, sondern auch die Worte von
Nietzsche herrühren. Dies ist aber nicht der Fall. Verfasserin des Gedichts ist
Henri Lou (Lou Andreas, geb. von Salome), in deren Roman ,Im Kampf um
Gott' (Leipzig, W. Friedrich) dasselbe auf S. 187 als ,Lebensgebet' bereits seit
dem Jahre 1885 gedruckt vorliegt. Wie aus den Briefen F. Nietzsche's an die
Verfasserin hervorgeht, wurde ihm das im Jahre 1882 entstandene Gedicht im
Manuscript mitgetheilt und ist damals von ihm componirt worden" (Andreas
1890, zitiert bei Overbeck / Rohde 1990, 448). Es sei hier angemerkt, dass Lou
von Salome das Gedicht nach ihren eigenen Angaben — anders als Andreas es
behauptet — bereits im Herbst 1880 „beim Verlassen der russischen Heimat in
der Schweiz" geschrieben hat (Andreas-Salome 1968, 40).
einem Brief an Elisabeth vom 26. 12. 1887, der allerdings nur in einer fäl-
schungsverdächtigen, sogenannten „Urabschrift" der Empfängerin überliefert
ist, soll er geschrieben haben: „Wenn Euer Buchhändler Euch meine Composi-
tion schicken sollte, so wirst Du die Melodie erkennen. Sie stammt aus meiner
glücklichsten Zeit, als ich ,Schopenhauer als Erzieher' schrieb und noch an
Freunde und Freundschaft glaubte. Bei manchen Stellen höre ich weit in der
Ferne den Rheinfall rauschen. Weißt Du noch? — Aber Verse und Orchestrirung
sind nicht von mir, das weißt Du auch. Es ist bei dieser Veröffentlichung ein
wenig Mystifikation, die gelegentlich am rechten Ort aufgeklärt werden soll."
(KGB III 7/3, 1, Nr. 7 (965a), S. 27, Z. 72-78) Es ist durchaus möglich, dass Elisa-
beth Förster-N. retrospektiv den Eindruck erwecken wollte, ihr Bruder habe die
Absicht gehabt, die wahre, dreifache Werkurheberschaft öffentlich zu machen,
sobald das Werk beim Publikum Anklang gefunden hätte (so Love 1981, 117).
Jedenfalls liest sich der Passus über die „Mystifikation" im angeblichen Brief
an die Schwester so, als habe diese um jeden Preis die Redlichkeit ihres Bru-
ders im Umgang mit geistigem Eigentum beweisen wollen — was, abgesehen
vom Stil dieses Passus, den Verdacht nährt, sie selbst sei um dieses höheren
Zweckes willen als Brief(ver)fälscherin unredlich geworden.
Bevor es jedenfalls zu einer Aufklärung dieser „Mystifikation" zumindest
im Hinblick auf die Gedichturheberschaft durch N. kommen konnte (die Stelle
336, 17-21 wurde erstmals 1908 in der Erstausgabe von EH publik), veröffent-
lichte Friedrich Carl Andreas, der seit 1887 mit Lou von Salome verheiratet
war, eine eigene Richtigstellung in der Deutschen Rundschau. Veranlasst fühlte
er sich dazu durch einen Aufsatz von Georg Brandes, der den Hymnus N.
zuschrieb (Brandes 1890, 85; vgl. NK 336, 21-23). „Das dort erwähnte und zum
Theil wiedergegebene Gedicht, ,Hymnus an das Leben'", so stellte Andreas
richtig, „rührt nicht von Nietzsche her, sondern ist nur von ihm componirt
worden. Herr Dr. Brandes ist durch den Umstand irregeführt worden, daß auf
dem Titelblatt der Musik für das Gedicht selbst kein Verfasser genannt, son-
dern dasselbe einfach als von Nietzsche componirt bezeichnet ist. Hieraus lag
es nahe, zu folgern, daß nicht nur die Musik, sondern auch die Worte von
Nietzsche herrühren. Dies ist aber nicht der Fall. Verfasserin des Gedichts ist
Henri Lou (Lou Andreas, geb. von Salome), in deren Roman ,Im Kampf um
Gott' (Leipzig, W. Friedrich) dasselbe auf S. 187 als ,Lebensgebet' bereits seit
dem Jahre 1885 gedruckt vorliegt. Wie aus den Briefen F. Nietzsche's an die
Verfasserin hervorgeht, wurde ihm das im Jahre 1882 entstandene Gedicht im
Manuscript mitgetheilt und ist damals von ihm componirt worden" (Andreas
1890, zitiert bei Overbeck / Rohde 1990, 448). Es sei hier angemerkt, dass Lou
von Salome das Gedicht nach ihren eigenen Angaben — anders als Andreas es
behauptet — bereits im Herbst 1880 „beim Verlassen der russischen Heimat in
der Schweiz" geschrieben hat (Andreas-Salome 1968, 40).