Stellenkommentar EH Zarathustra, KSA 6, S. 341 561
die Kleinheit des Menschen bleibt der schlimmste Einwand gegen den Men-
schen überhaupt, das, wogegen es keine Kur giebt, — mit allem Furchtbaren
am Menschen wird man fertig, weil es das Furchtbare Größe hat. — Um jene
Zeit machte ich meine reichlichste Erfahrung über die sogenannten guten
Menschen. Es ist nicht auszurechnen, was sich Alles unter dem Anscheine
eines Kampfes gegen das Böse von schlechten, von rachsüchtigen, von gänz-
lich rücksichtslosen Instinkten versteckt. Selbst schmutzige Antisemiten wie
Eugen Dühring nehmen in Anspruch, die Sache des Guten zu vertreten... Eine
zweite Seite — nicht weniger verhängnißvoll. Manche unter diesen ,guten Men-
schen' erwecken leicht Zutrauen, es ist ein Argument, wenn man sanfte blaue
Augen hat — es ist eine Verführung. Hinterdrein nämlich besehen, schuf diese
bei den Tugendhaften Instinkt gewordene Unmenschlichkeit, ,Idealismus'
genannt, dies Nicht-sehen-wollen des Wirklichen um jeden Preis, dies Anfas-
sen von Mensch und Thier mit den Rosenfingern der ,schönen Seele' Unheil
über Unheil. Die ,Idealisten' haben fast alle großen malheurs auf dem Gewis-
sen. — Damals war es, mitten drin im Werden des Zarathustra, daß mich plötz-
lich vor meinem eignen Gedanken zu grauen begann. Wie! die ewige Wie-
derkunft, die auch ewig das Kleine, Erbärmliche, Tugendhaft-Lügnerische,
das alte ,Ideal' immer wieder heraufbringt!... Man erinnert sich der Katastrophe
im Einsiedler-Glück Zarathustra's, seiner sieben Tage Krankheit, nachdem er
den ,abgründlichsten Gedanken' heraufgerufen hat. Weiß man eigentlich, wel-
cher Gedanke das ist? / — Ewig kehrt er wieder, der Mensch, deß du müde
bist, der kleine Mensch... / — Zuletzt, ins Ganze gerechnet und aus einiger
Ferne gesehn, waren auch noch diese Erfahrungen vollkommen unschätzbar.
Der Schmerz an sich ist für mich kein Einwand; und gesetzt, daß er die Thür
zu meinen Erlebnissen, folglich Erkenntnissen auf thut, dünkt er mich beinahe
heilig. Es giebt Fälle, wo es eines Ariadne-Fadens bedarf ins Labyrinth
hinein... Für den, der die Aufgabe auf sich hat, den großen Krieg, den
Krieg gegen die Tugendhaften (— die Guten und Gerechten heißt sie Zara-
thustra, auch ,letzte Menschen', auch ,Anfang vom Ende' —) heraufzubeschwö-
ren, sind einige Erfahrungen beinahe um jeden Preis einzukaufen: der Preis
könnte sogar die Gefahr sein, sich selbst zu verlieren. Siegt man hier, so
siegt man doppelt. Was mich nicht umbrachte, hat mich immer stärker
gemacht. Ich bin seitdem unerbittlicher im Kampfe mit der Tugend. — Eines
Tages war ich mit Allem fertig, ich hatte vergessen gelernt, — das höchste
Zeichen der Genesung, ich vergaß damals selbst meinen Zarathustra. Das
,Andere', der Willen zum ,Andern', zum Gegensätzlichen sogar, kam obenauf.
Eine Fremdheit, ein gänzliches Mich-nicht-mehr-verstehn legte sich aus dem
tiefsten und heilkräftigsten Instinkt heraus gleich einem Schleier über mich.
Man hätte damals mir beweisen können, daß ich der Vater Zarathustra's sei:
die Kleinheit des Menschen bleibt der schlimmste Einwand gegen den Men-
schen überhaupt, das, wogegen es keine Kur giebt, — mit allem Furchtbaren
am Menschen wird man fertig, weil es das Furchtbare Größe hat. — Um jene
Zeit machte ich meine reichlichste Erfahrung über die sogenannten guten
Menschen. Es ist nicht auszurechnen, was sich Alles unter dem Anscheine
eines Kampfes gegen das Böse von schlechten, von rachsüchtigen, von gänz-
lich rücksichtslosen Instinkten versteckt. Selbst schmutzige Antisemiten wie
Eugen Dühring nehmen in Anspruch, die Sache des Guten zu vertreten... Eine
zweite Seite — nicht weniger verhängnißvoll. Manche unter diesen ,guten Men-
schen' erwecken leicht Zutrauen, es ist ein Argument, wenn man sanfte blaue
Augen hat — es ist eine Verführung. Hinterdrein nämlich besehen, schuf diese
bei den Tugendhaften Instinkt gewordene Unmenschlichkeit, ,Idealismus'
genannt, dies Nicht-sehen-wollen des Wirklichen um jeden Preis, dies Anfas-
sen von Mensch und Thier mit den Rosenfingern der ,schönen Seele' Unheil
über Unheil. Die ,Idealisten' haben fast alle großen malheurs auf dem Gewis-
sen. — Damals war es, mitten drin im Werden des Zarathustra, daß mich plötz-
lich vor meinem eignen Gedanken zu grauen begann. Wie! die ewige Wie-
derkunft, die auch ewig das Kleine, Erbärmliche, Tugendhaft-Lügnerische,
das alte ,Ideal' immer wieder heraufbringt!... Man erinnert sich der Katastrophe
im Einsiedler-Glück Zarathustra's, seiner sieben Tage Krankheit, nachdem er
den ,abgründlichsten Gedanken' heraufgerufen hat. Weiß man eigentlich, wel-
cher Gedanke das ist? / — Ewig kehrt er wieder, der Mensch, deß du müde
bist, der kleine Mensch... / — Zuletzt, ins Ganze gerechnet und aus einiger
Ferne gesehn, waren auch noch diese Erfahrungen vollkommen unschätzbar.
Der Schmerz an sich ist für mich kein Einwand; und gesetzt, daß er die Thür
zu meinen Erlebnissen, folglich Erkenntnissen auf thut, dünkt er mich beinahe
heilig. Es giebt Fälle, wo es eines Ariadne-Fadens bedarf ins Labyrinth
hinein... Für den, der die Aufgabe auf sich hat, den großen Krieg, den
Krieg gegen die Tugendhaften (— die Guten und Gerechten heißt sie Zara-
thustra, auch ,letzte Menschen', auch ,Anfang vom Ende' —) heraufzubeschwö-
ren, sind einige Erfahrungen beinahe um jeden Preis einzukaufen: der Preis
könnte sogar die Gefahr sein, sich selbst zu verlieren. Siegt man hier, so
siegt man doppelt. Was mich nicht umbrachte, hat mich immer stärker
gemacht. Ich bin seitdem unerbittlicher im Kampfe mit der Tugend. — Eines
Tages war ich mit Allem fertig, ich hatte vergessen gelernt, — das höchste
Zeichen der Genesung, ich vergaß damals selbst meinen Zarathustra. Das
,Andere', der Willen zum ,Andern', zum Gegensätzlichen sogar, kam obenauf.
Eine Fremdheit, ein gänzliches Mich-nicht-mehr-verstehn legte sich aus dem
tiefsten und heilkräftigsten Instinkt heraus gleich einem Schleier über mich.
Man hätte damals mir beweisen können, daß ich der Vater Zarathustra's sei: