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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0610
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Stellenkommentar EH WA, KSA 6, S. 356-357 587

ner Seele: und alles Bukolische der Alten ist mit einem Schlage jetzt vor mir
entschleiert und offenbar geworden — bis jetzt begriff ich nichts davon." Lor-
rain steht hier also für eine heroisch-idyllische Stimmung, die noch fast ein
Jahrzehnt später N.s Selbstempfinden im Herbst 1888 — im Bewusstsein, die
Umwertung aller Werte zumindest als literarisches Werk vollbracht zu haben —
symbolisch verdichten sollte. Das Wetter selbst schien sich nach N.s innerer
Befindlichkeit zu richten und dessen sichtbarer Ausdruck zu werden. Bei
einem „am Po" lustwandelnden „Gott" (356, 9 f.) darf man das wohl erwarten.

Der Fall Wagner.
Entgegen der Werkchronologie wurde Der Fall Wagner in EH nach der Götzen-
Dämmerung platziert. Zu den in NK EH GD angegebenen Gründen kommt noch
hinzu, dass N. seine schriftstellerische Laufbahn mit der von ihm retrospektiv
als irrtümlich gekennzeichneten Wagner-Verehrung in GT begonnen hat, so
dass es die Darstellung des Gesamtwerks episch abrundet, wenn sie mit der
Wagner-Verdammung endet, angereichert um das Bekenntnis: „ich habe Wag-
ner geliebt" (357, 18 f.). Freilich ist das dem Fall Wagner gewidmete Kapitel zur
Hauptsache gar keine Retraktation des entsprechenden Werks, sondern eine
allgemeine gegenwarts- und dekadenzkritische Auslassung mit einer besonde-
ren Spitze gegen die Deutschen als Kulturverderber (vgl. GD Was den Deut-
schen abgeht, KSA 6, 103-110). Es läuft darauf hinaus, N. als Schicksal hinzu-
stellen, weil er als einziger den „Weg aus dieser Sackgasse" (360, 22)
deutscher und europäischer Geschichte wisse. Zugleich führt N. Klage darüber,
wie sehr die Deutschen ihn verkannt, sich an ihm „compromittirt" (360, 28)
hätten. Wagner ist bei alledem nur noch Anlass oder Vorwand.
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357, 4-12 Um dieser Schrift gerecht zu werden, muss man am Schicksal der
Musik wie an einer offnen Wunde leiden. — Woran ich leide, wenn ich am
Schicksal der Musik leide? Daran, dass die Musik um ihren weltverklärenden,
jasagenden Charakter gebracht worden ist, — dass sie decadence-Musik und
nicht mehr die Flöte des Dionysos ist... Gesetzt aber, dass man dergestalt die
Sache der Musik wie seine eigene Sache, wie seine eigene Leidensgeschichte
fühlt, so wird man diese Schrift voller Rücksichten und über die Maassen mild
finden.] In diesen Beginn sind ironisch Motive von Wagners Parsifal eingewo-
ben: Der junge Gralskönig Amfortas wurde, als er mit der heiligen Lanze den
 
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