Stellenkommentar EH WA, KSA 6, S. 358 593
Das von N. ironisierte, angebliche germanische Freiheitsstreben — vgl. NK
KSA 6, 238, 10-14 — wurde in der zeitgenössischen Literatur beileibe nicht
nur bei Hartmann mit dem ebenso angeblichen germanischen Glauben an das
Sittengesetz amalgamiert: „Nun geht [...] die germanische Sittenlehre im
Gegensätze zu der griechischen von dem Satze aus, daß die Erfüllung des Sit-
tengesetzes die freie That der Einzelnen sein soll" (Carl Adolf Schmidt 1853,
1, 104). Die Abgrenzung der germanischen Freiheit von römischer Unfreiheit
machten die damaligen Autoren an den Kapiteln 33 bis 37 der Germania des
Tacitus fest — diese Lesart des Tacitus, in der sich ein für Deutschland charak-
teristischer „antirömischer Affekt" (Carl Schmitt) manifestiert, reicht übrigens
bis zu den Humanisten zurück, die den Text der Germania neu entdeckt hatten.
In seinem Kommentar zu diesem Text — man beachte die Identifikation von
Germanen mit „Deutschen" — schrieb Nikolaus Mosler 1862: „Mit dem 33.
Abschnitt [der Germania] tritt sogleich das römische Wesen ein. [...] Nun aber
entfaltet sich im 35. und 36. Cap. die wahre Ansicht des Tacitus über das römi-
sche Reich. [...] Obwohl er seit Abfassung des Dialogs seine Ansicht dahin
geändert, daß er sich nicht mehr für das Ideal einer absoluten Monarchie,
sondern für die germanische Freiheit begeistert, so ist er doch seinen Hauptan-
schauungen treu geblieben. [...] /123/ [...] Darauf wird dann im folgenden
Abschnitt die Freiheit der Germanen, ja ihre weltgeschichtliche Stellung geprie-
sen, besonders in den kräftigen Sätzen: ,So lange wird Germanien besiegt. —
Mehr Feuer birgt das freie Germanien.' In der That der deutsche Grundsatz ist:
Freiheit mir, Freiheit Dir." (Tacitus 1862, 1, 122 f.) Ironischerweise pflegt man
die berühmteste neuzeitliche Formel für die Verbindung von Freiheit und Ger-
manentum nicht einem Deutschen, sondern einem französischen Aufklärer
zuzuschreiben, nämlich Montesquieu, demzufolge die Freiheit Europas aus
den Wäldern Germaniens stamme. Im Original — nämlich bei der Behandlung
der freiheitlichen Verfassung Englands — liest sich das allerdings weniger for-
melhaft griffig: „Si l'on veut lire l'admirable ouvrage de Tacite Sur les moeurs
des Germains, on verra que c'est d'eux que les Anglais ont tire l'idee de leur
gouvernement politique. Ce beau systeme a ete trouve dans les bois." (Charles-
Louis de Secondat, Baron de la Brede et de Montesquieu: De l'esprit des lois
[1748], XI 6. „Wenn man das bewundernswerte Werk des Tacitus Über die Sitten
der Germanen lesen will, wird man sehen, dass die Engländer von ihnen [sc.
den Germanen] die Idee ihrer politischen Regierung bezogen haben. Dieses
schöne System wurde in den Wäldern gefunden." Vgl. auch ebd., XXX 18, wo
von einigen Rechtsinstitutionen gesagt wird, sie hätten ihren Ursprung „des
forets de la Germanie").
Im tagespolitisch interessierten, historischen Schrifttum der Zeit wurde
zwar die Identifikation von „Deutschen" und „Germanen" wie selbstverständ-
Das von N. ironisierte, angebliche germanische Freiheitsstreben — vgl. NK
KSA 6, 238, 10-14 — wurde in der zeitgenössischen Literatur beileibe nicht
nur bei Hartmann mit dem ebenso angeblichen germanischen Glauben an das
Sittengesetz amalgamiert: „Nun geht [...] die germanische Sittenlehre im
Gegensätze zu der griechischen von dem Satze aus, daß die Erfüllung des Sit-
tengesetzes die freie That der Einzelnen sein soll" (Carl Adolf Schmidt 1853,
1, 104). Die Abgrenzung der germanischen Freiheit von römischer Unfreiheit
machten die damaligen Autoren an den Kapiteln 33 bis 37 der Germania des
Tacitus fest — diese Lesart des Tacitus, in der sich ein für Deutschland charak-
teristischer „antirömischer Affekt" (Carl Schmitt) manifestiert, reicht übrigens
bis zu den Humanisten zurück, die den Text der Germania neu entdeckt hatten.
In seinem Kommentar zu diesem Text — man beachte die Identifikation von
Germanen mit „Deutschen" — schrieb Nikolaus Mosler 1862: „Mit dem 33.
Abschnitt [der Germania] tritt sogleich das römische Wesen ein. [...] Nun aber
entfaltet sich im 35. und 36. Cap. die wahre Ansicht des Tacitus über das römi-
sche Reich. [...] Obwohl er seit Abfassung des Dialogs seine Ansicht dahin
geändert, daß er sich nicht mehr für das Ideal einer absoluten Monarchie,
sondern für die germanische Freiheit begeistert, so ist er doch seinen Hauptan-
schauungen treu geblieben. [...] /123/ [...] Darauf wird dann im folgenden
Abschnitt die Freiheit der Germanen, ja ihre weltgeschichtliche Stellung geprie-
sen, besonders in den kräftigen Sätzen: ,So lange wird Germanien besiegt. —
Mehr Feuer birgt das freie Germanien.' In der That der deutsche Grundsatz ist:
Freiheit mir, Freiheit Dir." (Tacitus 1862, 1, 122 f.) Ironischerweise pflegt man
die berühmteste neuzeitliche Formel für die Verbindung von Freiheit und Ger-
manentum nicht einem Deutschen, sondern einem französischen Aufklärer
zuzuschreiben, nämlich Montesquieu, demzufolge die Freiheit Europas aus
den Wäldern Germaniens stamme. Im Original — nämlich bei der Behandlung
der freiheitlichen Verfassung Englands — liest sich das allerdings weniger for-
melhaft griffig: „Si l'on veut lire l'admirable ouvrage de Tacite Sur les moeurs
des Germains, on verra que c'est d'eux que les Anglais ont tire l'idee de leur
gouvernement politique. Ce beau systeme a ete trouve dans les bois." (Charles-
Louis de Secondat, Baron de la Brede et de Montesquieu: De l'esprit des lois
[1748], XI 6. „Wenn man das bewundernswerte Werk des Tacitus Über die Sitten
der Germanen lesen will, wird man sehen, dass die Engländer von ihnen [sc.
den Germanen] die Idee ihrer politischen Regierung bezogen haben. Dieses
schöne System wurde in den Wäldern gefunden." Vgl. auch ebd., XXX 18, wo
von einigen Rechtsinstitutionen gesagt wird, sie hätten ihren Ursprung „des
forets de la Germanie").
Im tagespolitisch interessierten, historischen Schrifttum der Zeit wurde
zwar die Identifikation von „Deutschen" und „Germanen" wie selbstverständ-