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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0643
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620 Ecce homo. Wie man wird, was man ist

238, 2-4, vgl. NK KSA 6, 237, 28-238, 5). Diese Art des intellektuellen Selbstbe-
trugs im Dienste einer spezifischen Art der Selbsterhaltung, die hier als Deka-
denzerscheinung so unzweideutig verworfen wird, gilt in EH Warum ich so
klug bin 8 hingegen als Ausdruck eines positiv besetzten „Instinkt[s] der
Selbsterhaltung" (291, 29), „Instinkt[s] der Selbstvertheidigung" (291,
30): „Vieles nicht sehn, nicht hören, nicht an sich herankommen lassen —
erste Klugheit, erster Beweis dafür, dass man kein Zufall, sondern eine Necessi-
tät ist." (292, 1-3) Freilich überwiegt bei N.s Gebrauch der Metaphorik des
Nicht- sehen-Wollens bei weitem die negative Konnotation. Nicht-sehen-Wollen
der Wirklichkeit gilt ihm als „Idealismus" (vgl. N. an Malwida von Meysenbug,
20. 10. 1888, KSB 8, Nr. 1135, S. 458 u. NK 300, 11-25) oder als (falsche) Humani-
tät: „die Schwäche, die sich im Nicht-sehn-Wollen verräth, überall, wo
vielleicht Widerstand nöthig werden würde (,Humanität')" (NL 1888, KSA 13,
23[4], 606, 21-23). In einer früheren Notiz ist der Unterschied zwischen Nicht-
Sehen als perspektivischer Wahrnehmung und einem Nicht-sehen-Wollen stär-
ker herausgearbeitet, so dass man möglicherweise die Differenz von decadents
und starken Individuen daran festmachen könnte: „Egoismus als das perspek-
tivische Sehen und Beurtheilen aller Dinge zum Zweck der Erhaltung: alles
Sehen (daß überhaupt etwas wahrgenommen wird, dies Auswählen) ist schon
ein Werthschätzen, ein Acceptiren, im Gegensätze zu einem Zurückweisen und
Nicht-sehen-Wollen." (NL 1884, KSA 11, 26[71], 167) Wird jedoch die Differenz
zwischen den decadents und den starken Individuen auf das Wollen gegrün-
det, entstünde die paradoxe Situation, dass sich die ersteren, die gemeinhin
bei N. als „willensschwächer[.]" (AC 54, KSA 6, 237, 2) gelten, gerade durch ein
starkes Wollen von den starken Individuen unterscheiden. Die Metapher vom
Nicht-sehen-Wollen zehrt überdies von der problematischen Voraussetzung,
dass jemand — offenbar N. selbst — über eine vollständige(re) Erkenntnis der
Wirklichkeit verfügt, von der aus gesagt werden kann, dass andere Menschen
nicht nur bestimmte Wirklichkeitsaspekte außer acht lassen, sondern die Wirk-
lichkeit als ganze willentlich verkennen. In 368, 10-16 wird suggeriert, man
könne wissen, wie die „Realität" an sich beschaffen sei — eben nicht so, wie
die „guten Menschen" (368, 7 f.) meinen. Mit einem solchen Anspruch auf
Wirklichkeitserkenntnis wird jedoch der Perspektivismus unterwandert,
wonach jede Erkenntnis notwendig perspektivisch und niemandem die Wirk-
lichkeit als ganze erschlossen sei.
368, 16-22 Die Nothstände aller Art überhaupt als Einwand, als Etwas, das
man abschaffen muss, betrachten, ist die niaiserie par excellence, ins Grosse
gerechnet, ein wahres Unheil in seinen Folgen, ein Schicksal von Dummheit —,
beinahe so dumm, als es der Wille wäre, das schlechte Wetter abzuschaffen —
aus Mitleiden etwa mit den armen Leuten...] In AC 62, KSA 6, 252, 19-22 hat N.
 
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