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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0660
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Stellenkommentar EH Schicksal, KSA 6, S. 374 637

„Gekreuzigten" in die Welt gebracht, als dessen Gegenpart Dionysos fungiert.
Mit dem „Typus des Erlösers", der nur sich selbst erlöst, hat der „Gekreuzigte",
diese Vergöttlichung und Rechtfertigung sinnlosen, lebensverneinenden Lei-
dens, außer dem historischen Namen nichts gemein. Das Gegenstück zu Diony-
sos ist also der Christus der kirchlichen Verkündigung, nicht Jesus von Naza-
reth, den die antichristliche „Psychologie des Erlösers" (AC 28, KSA 6,
198, 32) dem kirchlichen Zugriff entwand.
In NL 1888, KSA 13, 14[89], 265-267 findet sich eine ausführliche Gegen-
überstellung von Dionysos und dem Gekreuzigten (zur Interpretation Willers
1988, 291-296), die in ersterem einen „die Widersprüche und Fragwürdigkeiten
des Daseins in sich hineinnehmenden und erlösenden Thuns", „die religiöse
Bejahung des Lebens, des ganzen, nicht verleugneten und halbirten Lebens"
aufzuweisen sucht, während der christliche Mensch „noch das glücklichste Los
auf Erden" verneine (KSA 13, 14[89], 266, korrigiert nach KGW IX 8, W II 5, 132,
26-28, 32-34 u. 133, 9-10). Es bestehe zwischen Dionysos und dem Gekreuzig-
ten kein Unterschied „hinsichtlich des Martyriums — nur hat dasselbe einen
anderen Sinn" (KSA 13, 266 = KGW IX 8, W II 5, 132, 42). Interessant ist, wie
diese und eine benachbarte Notiz (NL 1888, KSA 13, 14[91], 267 f. = KGW IX 8,
W II 5, 130, 14-60) noch nicht eindeutig auf der Differenz zwischen Jesus als
„psychologischem Typus des Erlösers" und dem Gekreuzigten des christlichen
Glaubens bestehen. Das kirchliche Christentum ist in diesen Nachlasstexten
noch nicht wie in AC seiner Deutungshoheit über Jesus entkleidet.
Gemäß dem Entwurf zu dem geplanten Werk „Der Wille zur Macht. /
Versuch / einer Umwerthung aller Werthe" (NL 1888, KSA 13, 14[136], 320 =
KGW IX 8, W II 5, 77, 2-6) sollte das zweite von insgesamt vier Büchern der
Frage gewidmet sein, „warum die gegnerischen Werthe immer
unterlagen" (NL 1888, KSA 13, 14[137], 321, 20-26 = KGW IX 8, W II 5, 76,
25; die vorherigen Varianten dieses Titels lauteten nach KGW: „Das neue
Princip der Werthe" und „warum die Gegenbewegung der Wer-
the immer unterlagen"), nämlich die der herrschenden Moral entgegen-
gesetzten Werte. Als „histor(ische) Anzeichen" einer „Philosophie des Ja",
einer „Religion des Ja" wird neben der Renaissance die „heidn(ische) Reli-
gion" genannt, erneut unter dem Stichwort „Dionysos gegen den ,Gekreuzig-
ten'" (NL 1888, KSA 13, 14[137], 321, korrigiert nach KGW IX 8, W II 5, 76, 28-
34). Aber die eigentlichen Ursachen für das Unterliegen des bejahenden Lebens
werden in der Notiz höchstens angedeutet: die Schwachen und Kranken schei-
nen in ihrer erdrückenden Mehrheit einfach stärker gewesen zu sein als die
wenigen von Natur Gesunden und Starken. Die Parteinahme der hier sprechen-
den „Wir" ist freilich eindeutig: „wir haben ein Princip, dem Einen Recht
zu geben, der bisher unterlag, und dem, der bisher siegte, Unrecht zu geben:
 
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