Stellenkommentar DD Nur Narr, KSA 6, S. 377-378 663
dieser Freier der Wahrheit durch Eifer- und Geifersucht völlig verschlammt"
(KSA 2, 215, 31-34, vgl. zum „Genie", das sich als „Freier" der „Wahrheit" aus-
gibt, aber eigentlich ihr Feind sei MA I 635, KSA 2, 361, 16-20). In Za I Vom
Lesen und Schreiben hat N. das Profil des Philosophen neu formuliert:
„Muthig, unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig — so will uns die Weisheit: sie
ist ein Weib und liebt immer nur einen Kriegsmann." (KSA 4, 49, 8-10) Diesen
Ausspruch Zarathustras benutzt N. dann als Motto der 3. Abhandlung der
Genealogie der Moral, ersetzt da aber „Weisheit" stillschweigend durch „Wahr-
heit". GM III läuft auf eine Infragestellung der Wahrheit selbst hinaus (vgl. NK
380, 10 f.).
377, 18-20 ein Thier, ein listiges, raubendes, schleichendes, / das lügen muss, /
das wissentlich, willentlich lügen muss] Das doppelte „muss", das N. am Ende
der beiden Verse exponiert, indem er sich der rhetorischen Figur der Epipher
(Wortwiederholung) bedient, betont das zwanghafte Verhalten, das den Dich-
ter in paradoxer Weise zum geistig unfreien Wesen, zum „Thier" macht. Die
Vorstellung, dass der Mensch ein listiges Raubtier sei oder sein solle, ist in N.s
Spätschriften stark präsent. JGB 239 präsentierte das „Weib" als ein ,„natürli-
cher[es]“' Wesen als den Mann, nämlich durch „seine ächte raubthierhafte
listige Geschmeidigkeit, seine Tigerkralle unter dem Handschuh, [...] das
Unfassliche, Weite, Schweifende seiner Begierden und Tugenden." (KSA 5,
178, 6-11). GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 32 lehrte den Menschen als das
„tapferste, listigste, ausdauerndste Thier" (KSA 6, 131, 2) verstehen. Vorausset-
zung dieser Überlegungen ist es, den Menschen als Tier unter die Tiere zurück-
zustellen (siehe zu N.s Quellen auch NK KSA 6, 180, 3-9). Allerdings ist in Nur
Narr! Nur Dichter! nicht vom Menschen im Allgemeinen die Rede, sondern vom
angeblichen Freier der Wahrheit, der von unbestimmt bleibenden „sie" (377,
17) verhöhnt wird. Ein Entwurf von 1885/86 unter der Überschrift „Die Zucht
des Geistes" hilft zu verstehen, dass im Dithyrambus wohl ein bestimmter
intellektueller Habitus gemeint ist, durch den sich die neuen Philosophen aus-
zeichnen: „Die Habgier und Unersättlichkeit des Geistes: — das Ungeheure,
Fatalistische, Nächtlich-Schweifende, Erbarmungslose, Raubthierhafte und [...]
Listige daran." (NL 1885/86, KSA 12, 1[185], 51, korrigiert nach KGW IX 2, N VII
2, 27 21-26, hier in der von N. überarbeiteten Fassung wiedergegeben;
ursprünglich lautete diese Stelle wohl: „Die Unersättlichkeit des Geistes; — das
Ungeheure, Fatalistische, Unbewußt-Begehrende und Verschlingende daran".
Vgl. zum Profil dieses angeblich ganz neuen Philosophen JGB 204-213, KSA 5,
129-149. Er weiß sich auch der (heiligen) Lüge zu bedienen, vgl. z. B. AC 55-
56, KSA 6, 239 f.).
377, 22-378, 6 bunt verlarvt [...] Nur Buntes redend, / aus Narrenlarven bunt
herausredend] Die insistierende und mit dem rhetorischen Mittel der Epanalep-
dieser Freier der Wahrheit durch Eifer- und Geifersucht völlig verschlammt"
(KSA 2, 215, 31-34, vgl. zum „Genie", das sich als „Freier" der „Wahrheit" aus-
gibt, aber eigentlich ihr Feind sei MA I 635, KSA 2, 361, 16-20). In Za I Vom
Lesen und Schreiben hat N. das Profil des Philosophen neu formuliert:
„Muthig, unbekümmert, spöttisch, gewaltthätig — so will uns die Weisheit: sie
ist ein Weib und liebt immer nur einen Kriegsmann." (KSA 4, 49, 8-10) Diesen
Ausspruch Zarathustras benutzt N. dann als Motto der 3. Abhandlung der
Genealogie der Moral, ersetzt da aber „Weisheit" stillschweigend durch „Wahr-
heit". GM III läuft auf eine Infragestellung der Wahrheit selbst hinaus (vgl. NK
380, 10 f.).
377, 18-20 ein Thier, ein listiges, raubendes, schleichendes, / das lügen muss, /
das wissentlich, willentlich lügen muss] Das doppelte „muss", das N. am Ende
der beiden Verse exponiert, indem er sich der rhetorischen Figur der Epipher
(Wortwiederholung) bedient, betont das zwanghafte Verhalten, das den Dich-
ter in paradoxer Weise zum geistig unfreien Wesen, zum „Thier" macht. Die
Vorstellung, dass der Mensch ein listiges Raubtier sei oder sein solle, ist in N.s
Spätschriften stark präsent. JGB 239 präsentierte das „Weib" als ein ,„natürli-
cher[es]“' Wesen als den Mann, nämlich durch „seine ächte raubthierhafte
listige Geschmeidigkeit, seine Tigerkralle unter dem Handschuh, [...] das
Unfassliche, Weite, Schweifende seiner Begierden und Tugenden." (KSA 5,
178, 6-11). GD Streifzüge eines Unzeitgemässen 32 lehrte den Menschen als das
„tapferste, listigste, ausdauerndste Thier" (KSA 6, 131, 2) verstehen. Vorausset-
zung dieser Überlegungen ist es, den Menschen als Tier unter die Tiere zurück-
zustellen (siehe zu N.s Quellen auch NK KSA 6, 180, 3-9). Allerdings ist in Nur
Narr! Nur Dichter! nicht vom Menschen im Allgemeinen die Rede, sondern vom
angeblichen Freier der Wahrheit, der von unbestimmt bleibenden „sie" (377,
17) verhöhnt wird. Ein Entwurf von 1885/86 unter der Überschrift „Die Zucht
des Geistes" hilft zu verstehen, dass im Dithyrambus wohl ein bestimmter
intellektueller Habitus gemeint ist, durch den sich die neuen Philosophen aus-
zeichnen: „Die Habgier und Unersättlichkeit des Geistes: — das Ungeheure,
Fatalistische, Nächtlich-Schweifende, Erbarmungslose, Raubthierhafte und [...]
Listige daran." (NL 1885/86, KSA 12, 1[185], 51, korrigiert nach KGW IX 2, N VII
2, 27 21-26, hier in der von N. überarbeiteten Fassung wiedergegeben;
ursprünglich lautete diese Stelle wohl: „Die Unersättlichkeit des Geistes; — das
Ungeheure, Fatalistische, Unbewußt-Begehrende und Verschlingende daran".
Vgl. zum Profil dieses angeblich ganz neuen Philosophen JGB 204-213, KSA 5,
129-149. Er weiß sich auch der (heiligen) Lüge zu bedienen, vgl. z. B. AC 55-
56, KSA 6, 239 f.).
377, 22-378, 6 bunt verlarvt [...] Nur Buntes redend, / aus Narrenlarven bunt
herausredend] Die insistierende und mit dem rhetorischen Mittel der Epanalep-