Stellenkommentar NW Gefahr, KSA 6, S. 422 735
Vortrags, das höchste Gebot ihrer Kunst sei, jedem Stück so viel Hochrelief
zu geben, als nur möglich ist, und es um jeden Preis eine dramatische
Sprache reden zu lassen?" Während in dieser Fassung der Vortragskünstler als
Subjekt im Hauptsatz den Schwerpunkt des Satzgefüges bildet, tritt in NW die
vermeintliche Tugend an diese Stelle. Der Vortragskünstler taucht hier erst im
Nebensatz auf und illustriert eher beiläufig den großen Irrtum, den N. an jener
vermeintlichen Tugend festzumachen versucht. Die Rede von Tugend, die in
der Vorlage fehlt, fügt den alten Aphorismus terminologisch in einen neuen
moralkritischen Kontext ein, ohne dass es doch um eine moralische Frage in
engerem Sinn zu gehen scheint. Die Evokation von (falscher) Tugend macht
freilich darauf aufmerksam, dass das Problem der Werte und Wertsetzungen
im Hintergrund auch scheinbar rein ästhetischer Erörterungen steht.
Der Ausdruck „Hochrelief" oder „hautrelief" stammt aus den Bildenden
Künsten und beruht auf einer in der Plastik gemachten Unterscheidung: Schon
bei den Griechen schied sich das Relief „von Anfang an je nach der Verwen-
dung in Hochrelief (Hautrelief), welches durch stark vorragende Umrahmung
(namentlich die Triglyphenblöcke) zu starker Hervorhebung der Figuren
gezwungen war, und in das einfache, zur Flächenverzierung bestimmte Flach-
relief (Basrelief), wie es an Grabstelen etc. üblich war" (Meyer 1885-1892, 13,
714). Schopenhauer hatte im ersten Band der Welt als Wille und Vorstellung (1.
Buch, § 15) die Verwechslung von Hochrelief und Malerei als Beispiel für einen
auf dem sinnlichen Anschein beruhenden Irrtum angeführt: „der Sinnen-
schein, (Trug des Verstandes) veranlasst Irrthum (Trug der Vernunft): z. B.
wenn man eine Malerei für ein Haut-Relief ansieht und wirklich dafür hält:
es geschieht durch einen Schluss aus folgendem Obersatz: ,wenn Dunkelgrau
stellenweise durch alle Nuancen in Weiß übergeht; so ist allemal die Ursache
das Licht, welches Erhabenheiten und Vertiefungen ungleich trifft: ergo — ."'
(Schopenhauer 1872-1873, 2, 95) In Schopenhauers Beispiel liegt also eine
durch einen falsch interpretierten Sinneseindruck hervorgerufene, faktische
Verwechslung verschiedener Künste vor, während in N.s metaphorischem
Gebrauch von hautrelief oder Hochrelief suggeriert wird, bei Wagner liege eine
absichtliche Verwechslung vor, da die Musik nach N.s Dafürhalten eben keine
plastische Kunst sein soll, die derart expressiv Charaktere herausarbeitet. In
WA 9, KSA 6, 32, 8-12 führt N. genauer aus, was er darunter versteht: „Auch
im Entwerfen der Handlung ist Wagner vor Allem Schauspieler. Was zuerst
ihm aufgeht, ist eine Scene von unbedingt sichrer Wirkung, eine wirkliche
Actio mit einem hautrelief der Gebärde, eine Scene, die umwirft — diese
denkt er in die Tiefe, aus ihr zieht er erst die Charaktere." Hochrelief oder
hautrelief ist bei N. übrigens kein häufiges Wort; der einzige weitere Beleg in
NL 1887, KSA 12, 10[50], 480, 4-7 (korrigiert nach KGW IX 6, W II 2, 12-14) setzt
Vortrags, das höchste Gebot ihrer Kunst sei, jedem Stück so viel Hochrelief
zu geben, als nur möglich ist, und es um jeden Preis eine dramatische
Sprache reden zu lassen?" Während in dieser Fassung der Vortragskünstler als
Subjekt im Hauptsatz den Schwerpunkt des Satzgefüges bildet, tritt in NW die
vermeintliche Tugend an diese Stelle. Der Vortragskünstler taucht hier erst im
Nebensatz auf und illustriert eher beiläufig den großen Irrtum, den N. an jener
vermeintlichen Tugend festzumachen versucht. Die Rede von Tugend, die in
der Vorlage fehlt, fügt den alten Aphorismus terminologisch in einen neuen
moralkritischen Kontext ein, ohne dass es doch um eine moralische Frage in
engerem Sinn zu gehen scheint. Die Evokation von (falscher) Tugend macht
freilich darauf aufmerksam, dass das Problem der Werte und Wertsetzungen
im Hintergrund auch scheinbar rein ästhetischer Erörterungen steht.
Der Ausdruck „Hochrelief" oder „hautrelief" stammt aus den Bildenden
Künsten und beruht auf einer in der Plastik gemachten Unterscheidung: Schon
bei den Griechen schied sich das Relief „von Anfang an je nach der Verwen-
dung in Hochrelief (Hautrelief), welches durch stark vorragende Umrahmung
(namentlich die Triglyphenblöcke) zu starker Hervorhebung der Figuren
gezwungen war, und in das einfache, zur Flächenverzierung bestimmte Flach-
relief (Basrelief), wie es an Grabstelen etc. üblich war" (Meyer 1885-1892, 13,
714). Schopenhauer hatte im ersten Band der Welt als Wille und Vorstellung (1.
Buch, § 15) die Verwechslung von Hochrelief und Malerei als Beispiel für einen
auf dem sinnlichen Anschein beruhenden Irrtum angeführt: „der Sinnen-
schein, (Trug des Verstandes) veranlasst Irrthum (Trug der Vernunft): z. B.
wenn man eine Malerei für ein Haut-Relief ansieht und wirklich dafür hält:
es geschieht durch einen Schluss aus folgendem Obersatz: ,wenn Dunkelgrau
stellenweise durch alle Nuancen in Weiß übergeht; so ist allemal die Ursache
das Licht, welches Erhabenheiten und Vertiefungen ungleich trifft: ergo — ."'
(Schopenhauer 1872-1873, 2, 95) In Schopenhauers Beispiel liegt also eine
durch einen falsch interpretierten Sinneseindruck hervorgerufene, faktische
Verwechslung verschiedener Künste vor, während in N.s metaphorischem
Gebrauch von hautrelief oder Hochrelief suggeriert wird, bei Wagner liege eine
absichtliche Verwechslung vor, da die Musik nach N.s Dafürhalten eben keine
plastische Kunst sein soll, die derart expressiv Charaktere herausarbeitet. In
WA 9, KSA 6, 32, 8-12 führt N. genauer aus, was er darunter versteht: „Auch
im Entwerfen der Handlung ist Wagner vor Allem Schauspieler. Was zuerst
ihm aufgeht, ist eine Scene von unbedingt sichrer Wirkung, eine wirkliche
Actio mit einem hautrelief der Gebärde, eine Scene, die umwirft — diese
denkt er in die Tiefe, aus ihr zieht er erst die Charaktere." Hochrelief oder
hautrelief ist bei N. übrigens kein häufiges Wort; der einzige weitere Beleg in
NL 1887, KSA 12, 10[50], 480, 4-7 (korrigiert nach KGW IX 6, W II 2, 12-14) setzt