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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 6,2): Kommentar zu Nietzsches "Der Antichrist", "Ecce homo", "Dionysos-Dithyramben", "Nietzsche contra Wagner" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2013

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https://doi.org/10.11588/diglit.70914#0769
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746 Nietzsche contra Wagner. Aktenstücke eines Psychologen

ner nicht mehr verstehen, gilt für NW, dass man jetzt bereits darüber lache —
zumindest über ihre falschen ideologisch-gelehrten Voraussetzungen.
424, 17 denn die Musik ist ein Weib...] Das ist ein Zitat aus Wagners Oper und
Drama, wo es heißt: „Musik ist die Gebärerin, der Dichter der Erzeuger; und
auf dem Gipfel des Wahnsinnes war die Musik daher angelangt, als sie nicht
nur gebären, sondern auch zeugen wollte. / Die Musik ist ein Weib. /
Die Natur des Weibes ist die Liebe: aber diese Liebe ist die empfangende
und in der Empfängniß rückhaltslos sich hingebende." (Wagner 1871-
1873, 3, 389 = Wagner 1907, 3, 316) N. transponiert diese Vorgabe in JGB Vor-
rede, KSA 5, 11, 2, indem er voraussetzt, „dass die Wahrheit ein Weib ist".
424, 17-25 Man darf sich über diese Sachlage nicht dadurch beirren lassen,
dass wir augenblicklich gerade in der Reaktion innerhalb der Reaktion leben.
Das Zeitalter der nationalen Kriege, des ultramontanen Martyriums, dieser ganze
Zwischenakts-Charakter, der den Zuständen Europa's jetzt eignet, mag in
der That einer solchen Kunst, wie der Wagner's, zu einer plötzlichen Glorie ver-
helfen, ohne ihr damit Zukunft zu verbürgen. Die Deutschen selber haben keine
Zukunft...] MA II VM 171, KSA 2, 451, 31-452, 12: „Man darf sich über diese
Sachlage nicht durch jene flüchtigen Schwankungen beirren lassen, welche als
Reaction innerhalb der Reaction, als ein zeitweiliges Einsinken des Wellen-
bergs inmitten der gesammten Bewegung erscheinen; so mag dieses Jahrze-
hend der nationalen Kriege, des ultramontanen Martyriums und der socialisti-
schen Beängstigung in seinen feineren Nachwirkungen auch der genannten
Kunst zu einer plötzlichen Glorie verhelfen, — ohne ihr damit die Bürgschaft
dafür zu geben, dass sie ,Zukunft habe', oder gar, dass sie die Zukunft
habe. — Es liegt im Wesen der Musik, dass die Früchte ihrer grossen Cultur-
Jahrgänge zeitiger unschmackhaft werden und rascher verderben, als die
Früchte der bildenden Kunst oder gar die auf dem Baume der Erkenntniss
gewachsenen: unter allen Erzeugnissen des menschlichen Kunstsinns sind
nämlich Gedanken das Dauerhafteste und Haltbarste." Der aufklärerische
Impetus der Vorlage, wonach sich gegenüber künstlerischen Produkten Gedan-
ken als haltbarer erwiesen, entfällt in der Bearbeitung von NW ersatzlos. Der
„Zwischenakts-Charakter" der Gegenwart verweist in NW nicht mehr auf
das sich schließlich durchsetzende Licht der Wissenschaft, gegen das Wagners
musikalischer Obskurantismus in MA II VM 171 gerichtet schien, sondern viel-
mehr auf die „Umwerthung aller Werthe", mit der N. — explizit gegen die
Deutschen — die Unentschiedenheit der Gegenwart 1888 zu beenden trachtete.
Die ursprünglich aufklärerisch-politisch motivierte Wagner-Kritik von MA II VM
171 wird in NW in den Kontext dessen gestellt, was N. nun „grosse Politik"
nennt. Damit verändern sich die Lektürebedingungen dieser Kritik grundle-
gend.
 
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