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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1993, 1. Abhandlung): Sprachliche Texte - genetische Texte: Sprachwissenschaft und molekulare Genetik ; vorgetragen am 28. November 1992 — Heidelberg: Winter, 1993

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48167#0024
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16

Wolfgang Raible

Es ist die Rede von Motiven, die sich im genetischen Text wieder-
holen und von Gen-Bibliotheken.
Bevor ich mich den Problemen zuwende, die der genetische
Code mit sich bringt, will ich zunächst fragen, wie eigentlich die
sprachliche Kommunikation funktioniert. - Alle Sprachsysteme
machen Gebrauch von den Möglichkeiten, die eine geregelte Kom-
binatorik in Verbindung mit einer Hierarchie von Ebenen bietet.
Laute aus einem ganz begrenzten Arsenal von 20 bis 30 sogenann-
ten Phonemen können - nach bestimmten Regeln16 - zu größeren
Einheiten oder Wörtern kombiniert werden. Diese Wörter können,
als Einheiten der nächsthöheren Ebene, ihrerseits zu noch umfang-
reicheren Einheiten kombiniert werden, etwa zu Sätzen. Auch hier
gelten wieder Regeln, die wir „Syntax“ nennen. Sätze können wie-
derum zu größeren Einheiten, etwa Absätzen kombiniert werden,
Absätze zu Texten. Wir haben es also mit einer Hierarchie von Ebe-
nen zu tun - von der höchsten Ebene her gesehen wird mehrfach
eine sehr große Zahl von Möglichkeiten auf eine jeweils wesentlich
kleinere Zahl von Elementen der nächstniedrigen Stufe zurückge-
führt.
Neben der Hierarchie und der dazugehörigen geregelten Kombi-
natorik gibt es ein zweites Charakteristikum, die Linearität. Alle
sprachlichen Äußerungen sind ja linear: Satz folgt auf Satz, in den
Sätzen folgt Wort auf Wort, innerhalb der Wörter Laut auf Laut.
Hieraus ergibt sich nun ein grundlegendes Problem, das erstmals
einer der grammairiens philosophes des 18. Jahrhunderts, der Abbe
de Condillac (1715-1780), in dieser Schärfe gesehen hat17: Wenn wir
etwas sagen wollen, haben wir eine komplexe und wohl simultane
Vorstellung, die in aller Regel mehrdimensional ist. Um diese Vor-
stellung anderen mitzuteilen, müssen wir sie notgedrungen in ganz
kleine Teile zerlegen und sie, einen nach dem anderen, auf den ein-
dimensionalen Faden unserer Rede aufreihen. Wir müssen dabei so
vorgehen, daß der Hörer im Stande ist, auf der Grundlage dieser zer-
stückelten, linearisierten Teile das simultane Ganze zu rekonstruie-
ren, von dem wir ausgegangen waren. Hierauf und auf nichts ande-
16 Es handelt sich um Regeln der Phonotaktik, die sich einerseits aus dem erge-
ben, was „aussprechbar“ und hörbar ist, andererseits auch der Redundanz Rech-
nung tragen, die bei sprachlicher Informationsübermittlung durch Schallwellen
(und mannigfachen Störungsmöglichkeiten) angezeigt ist.
17 VgL etwa Condillac 1746 (Teil I, Abschnitt III) oder den Cours d'etudes, den er
als Hauslehrer des Infanten Don Ferdinand von Parma verfaßt hat.
 
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