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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1993, 1. Abhandlung): Sprachliche Texte - genetische Texte: Sprachwissenschaft und molekulare Genetik ; vorgetragen am 28. November 1992 — Heidelberg: Winter, 1993

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48167#0027
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Sprachliche Texte - Genetische Texte

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fängt und jemand, der empfangen wird. In einer Sprache wie der
lateinischen, die eine sogenannte Subjektkonjugation besitzt,
bedeutet nun jedes finite Verb eine obligatorische Beziehung zu
einem der Mitspieler, nämlich demjenigen, der die Rolle des Sub-
jekts (im Nominativ) innehat.
Wenn wir in unserer Redekette einen Kandidaten dafür suchen,
finden wir nur rusticus mus, die Landmaus. Wir hätten also: rusticus
musfertur,,fi& Landmaus wird getragen“-was uns allerdings kaum
zufriedenstellen wird, weil die Valenz des Verbs nicht mit den bis
jetzt dekodierten Mitspielern übereinstimmt: wir müssen ja z.B.
noch ein Objekt unterbringen und „wird getragen“ läßt kein solches
Objekt zu. Man wird also diese Hypothese fallenlassen und einen
neuen Anlauf mit einer anders interpretierten Form fertur machen,
nämlich mit der Bedeutung „es wird berichtet“. Diese Hypothese
läßt uns einen eingebetteten Satz erwarten, der von fertur abhängt.
Seine Unterordnung wird im Lateinischen durch eine nichtfinite
Form signalisiert: genau eine solche Form folgt in der Redekette:
accepisse. Accipere impliziert jemanden, der etwas annimmt oder
empfängt, sowie jemanden, der empfangen wird. Ein solcher Emp-
fang findet irgendwo statt, was bedeutet, daß man eine Ortsangabe
hinzufügen kann. Daß diese Hypothese wohl richtig ist, wird uns
durch das nachfolgende Wort bestätigt: das Wort paupere, das wir
bereits kennen, paßt nicht nur durch die Kongruenz im Kasus und
Numerus zu cavo, „Höhle“. Es handelt sich zugleich um den Ort, an
dem der Empfang stattfindet. Wir haben nun folgendes verstanden:
„Es wird berichtet, die Feldmaus habe einst die Stadtmaus in ihrer
armen Höhle empfangen“.
Ich breche hier mein kleines Spiel ab. Es dürfte in der Zeitlupe
sehr gut einige der Vorkehrungen deutlich gemacht haben, die
getroffen werden müssen, wenn ein komplexes, in Raum und Zeit
sich abspielendes Ereignis so in kleine, linearisierte Informations-
stücke zerlegt werden soll, daß ein Rezipient das Ganze erneut zu
einer komplexen Vorstellung integrieren kann. Diese Vorkehrungen
führen beim Leser oder Hörer zu einer Art von Spiel mit Hypothe-
sen, die jeweils durch das, was in der Redekette folgt, bestätigt oder
nicht bestätigt werden. Sechs Punkte sollen dabei hervorgehoben
werden:

1. Polysemie. Man wird zunächst die Polysemie der Informations-
stücke festgestellt haben, die wir Lexeme nennen. Diese Polyse-
mie ist, wie schon Aristoteles gesehen hat, unvermeidlich: sie ist
 
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