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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1993, 1. Abhandlung): Sprachliche Texte - genetische Texte: Sprachwissenschaft und molekulare Genetik ; vorgetragen am 28. November 1992 — Heidelberg: Winter, 1993

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48167#0038
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Wolfgang Raible

andersgeartete Zell-Umgebung zur Bildung eines zweiten Molch-
embryos31.
Auf diese Weise ließ sich feststellen, daß es im Gewebe des
Embryos schon in einer sehr frühen Phase sogenannte „morphoge-
netische Zonen“ gibt. Anders gewendet: Die Zellen des betreffen-
den Gewebes „wissen“ bereits, um nochmals diese anthropomor-
phe Wendung zu wählen, welchen Teil des genetischen Textes sie in
der Zukunft zu lesen haben. Und sie behalten dieses - metaphori-
sche - Wissen selbst in einem dafür eigentlich nicht vorgesehenen
Kontext, ja sie induzieren diesen Kontext sogar dazu, sich anders zu
entwickeln als er dies normalerweise getan hätte („Organisator-
effekt“).
Um dieses Prinzip der Stadien zu erläutern, die andere Stadien
voraussetzen, bediene ich mich des Beispiels der Fruchtfliege Dro-
sophila. Hier beginnt alles mit dem - in Abbildung 6 in einer Vor-
stufe dargestellten - gelegten Ei, der Oozyte, die - als Follikel -
außer der eigentlichen Eizelle 15 andere Zellen enthält. (Ihre Auf-
gabe besteht unter anderem darin, die materielle Basis für die nach-
folgende Zellteilung des Embryos zu liefern, sie also in gewisser
Weise zu ernähren.)
Die Oozyte besitzt bereits eine Orientierung, also eine vordere,
hintere, Rücken- und Bauchseite32. Wenn die Eizelle befruchtet
ist, beginnt sie fast unmittelbar mit der Teilung, das heißt mit der
Replikation des genetischen Codes - ohne daß sich in diesem Falle
bereits Wände zwischen den Zellen bildeten. Dies ist in Abbil-
dung 7 zu verfolgen.

31 Vgl. hierzu Klaus Sander 1993: 8f.:
Aufgrund früherer Ergebnisse hatte Spemann erwartet, daß am Einpflan-
zungsort eine zusätzliche (= sekundäre) Anlage für ein Zentralnerven-
system entstehen würde, und zwar entweder aus dem eingepflanzten Mate-
rial oder - angeregt (induziert) durch dieses Material - aus Wirtszellen, die
eigentlich zur Bildung der Bauchhaut beitragen sollten. Laut Ausweis der
Pigmentierung trat letzteres ein. Unerwartet war, daß sich im Umfeld dieses
Neuralohrs Anlagen für die inneren Organe eines zweiten (sekundären)
Embryonalkörpers fanden, einige davon chimärisch zusammengesetzt aus
Zellen des Wirtes und des Transplantates. Sie stellen zusammen mit dem
sekundären Neuralohr das dreidimensionale Anlagemuster für einen mehr
oder minder vollständigen Körper dar, das offenbar ohne Rücksicht auf die
Herkunft des Zellmaterials durch eine übergreifende Wirkung „organisiert“
worden war. Spemann nannte diese Wirkung den Organisatoreffekt.
32 Vgl. z.B. Lawrence 1992: 25ff.
 
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