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Raible, Wolfgang; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1993, 1. Abhandlung): Sprachliche Texte - genetische Texte: Sprachwissenschaft und molekulare Genetik ; vorgetragen am 28. November 1992 — Heidelberg: Winter, 1993

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.48167#0043
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Sprachliche Texte - Genetische Texte

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nese die ganzen Umwege der Phylogenese zu wiederholen. Warum
muß etwa ein menschlicher Embryo - ohne je auf diese Weise zu
atmen - das Stadium der Kiemenbildung durchlaufen? Warum
müssen die Augen des Höhlenolms gebildet und dann wieder abge-
baut werden? Die diesbezügliche Überlegung ist einfach: man kann
sich die Entwicklung der Arten wie eine Abfolge von Bifurkationen
vorstellen, die dem Prinzip des Zufalls geschuldet sind37. Jede neue
Bifurkation ist ein vorsichtiges Tasten nach dem Verfahren „trial
and error“. Hat die Mutation Erfolg, ist also die Anpassung an die
nähere und weitere Umwelt, die sie bedeutet, vorteilhaft, so kann
die Entwicklung auf dem Weg weitergehen, der durch die neue
Bifurkation eröffnet wurde. Sollte diese neue Lösung jedoch nega-
tiv sein oder gar scheitern, so bleibt der gesamte Weg, der bis zur
neuen Bifurkation durchlaufen wurde, für alle anderen Mitglieder
der Spezies weiter verfügbar.
Die Folge dieser Strategie ist nun einleuchtend: je weiter man
auf dem Weg, den eine Gattung durchlaufen hat, zum Ursprung
zurückgeht, desto häufiger werden gemeinsame Lösungen auftre-
ten, deren Wirksamkeit sich während Hunderter von Millionen Jah-
ren bewährt hat. Dies erklärt, warum wir schon das Prinzip unseres
genetischen Codes mit Insekten, Würmern, Pflanzen, Mikroben
und Viren teilen. Dies erklärt auch, warum einige für das Funktio-
nieren dieses Codes grundlegende Prinzipien für alle Arten von
vielzelligen Lebewesen identisch sein dürften.
4.2.4 Morphogenese aus topologischer Sicht
Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß auch eine Disziplin,
die auf den ersten Blick mit der Biologie ebensowenig zu tun hat
wie die Sprachwissenschaft, nämlich die mathematische Topologie,
Fingerzeige in dieselbe Richtung gibt.
Topologisch gesehen haben die meisten vielzelligen Lebewesen
in der frühen Morphogenese exakt dieselben Probleme zu lösen: in
einer ersten Phase entsteht eine Zellansammlung, die topologisch
mit einer Kugel vergleichbar ist, oder, anschaulicher, mit einem Ten-
nisball. Das ist die Phase der Blastula. Irgendwann müssen
bestimmte Zellen damit beginnen, sich nach innen zu wölben (der
Tennisball wird „eingedellt“, gelehrt heißt diese Phase Gastrulation:
37 Es handelt sich also, um mit dem Titel einer der Erzählungen von Jorge Luis
Borges zu sprechen, um einen „jardi'n de senderos que se bifurcan“, einen „Gar-
ten aus Pfaden, die sich verzweigen“.
 
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